Urban Gardening - Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt

Urban Gardening - Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt

von: Christa Müller

oekom Verlag, 2011

ISBN: 9783865813749

Sprache: Deutsch

352 Seiten, Download: 4372 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Urban Gardening - Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt



Christa Müller

Einleitung


»Diese Gesellschaft braucht Ruhe, und zwar dringend« schreibt der Rezensent1 des »Garten-Design-Buchs für das 21. Jahrhundert«von Conran und Garvin. Allerdings entwerfen die gefeierten Designer den Garten explizit als Gegengewicht zum Alltag und offerieren erholungssuchenden Großstadtbewohnern der gehobenen Einkommensklasse ein weltabgewandtes Refugium im Privaten. Im Gegensatz dazu wendet sich der Garten, von dem in diesem Buch die Rede ist, der Welt zu, ja, er boomt ausgerechnet dort, wo es laut, selten beschaulich und zuweilen chaotisch zugeht: mitten in der Stadt. Hier suchen die Akteure der neuen Gartenbewegung auch nach Ruhe, nach Erdung, nach Begegnung mit der Natur. Aber sie suchen in einer paradox anmutenden Bewegung zugleich die Begegnung mit anderen und die Konfrontation mit den Themen, die der Garten nahelegt – und so sind die Motivationen für das Gärtnern vielschichtig und vielfältig. Sie reichen vom Wunsch, sich gesund zu ernähren, einen Naturraum mitten in der Stadt zu gestalten, der Nachbarschaft zu begegnen, praktische Beiträge gegen die Abholzung von Urwald für die Nahrungsmittelversorgung der nördlichen Halbkugel zu leisten, bis hin zur Diskussion der Frage, für welche Zwecke die Kommune ihre Flächen zur Verfügung stellen soll.

Der gemeinschaftlich organisierte Gemüsegarten erweitert den Blickwinkel und bietet Möglichkeiten des Selbstgestaltens, des Selbermachens ebenso wie Freiräume vom allgegenwärtigen Konsum in einer Warenwelt, die sich bereits komplett vorgefertigt präsentiert.

Damit generiert der Garten neue Wohlstandsmodelle, aber auch neue Formen der Politik. Michelle Obama hat das längst verstanden. In einer Videoansprache zur Eröffnung der Jahreskonferenz 2010 der American Community Gardening Association erzählt sie den TeilnehmerInnen, dass sie bei jedem Staatsbesuch zuallererst nach dem Stand der Dinge im Gemüsegarten des Weißen Hauses gefragt wird. Michelle Obama hat Gemüse Marke Eigenanbau samt der hier angedockten Themenfelder wie Gesundheit, Gemeinschaft und Local Food auf die Agenda gesetzt. Bemerkenswert ist vor allem die Resonanz, auf die sie stößt.

Denn Lebensmittel mitten in der Stadt anzubauen, sie mit anderen zu teilen, zu tauschen oder gemeinsam zu verzehren und damit die Stadt als Ort der naheliegenden Lebensqualität zu entdecken, erscheint in der globalisierten (und zunehmend virtualisierten) Welt auf den ersten Blick als ungewöhnlicher Trend. Andererseits liegt auf der Hand, dass mit dem Versiegen des Erdöls nicht nur die industrialisierte Nahrungsmittelproduktion zur Disposition steht, sondern auch das dichotome Verständnis von Stadt und Land. Das Buch wagt die Diagnose, dass in den westlichen Großstädten ein neues Verständnis von Urbanität entsteht und die »neuen urbanen Gärten« mit ihren Kulturen des Selbermachens und der Re-Etablierung von Nahbezügen hierbei eine Vorreiterrolle spielen.

Die Autorinnen und Autoren beleuchten städtebauliche und stadtplanerische ebenso wie historische, soziale, ökonomische und kulturelle Dimensionen der Rückkehr der produktiven Gärten in die Städte, stellen die Projekte und ihre häufig jungen ProtagonistInnen vor, ordnen die Aktivitäten zeitdiagnostisch ein und stellen Verknüpfungen zu gesellschaftlich relevanten Entwicklungen her, in die der Boom der Gärten eingebettet ist.

Landschaftsarchitekten und Stadtplaner verstehen unter urbaner Landwirtschaft und urbanem Gärtnern etwas anderes als Soziologen, Historiker oder auch die Gartenaktivisten selbst. Deshalb können die verschiedenen Lesarten im Kontext unseres Themas nicht trennscharf voneinander abgegrenzt werden. Ebenfalls wird man in diesem Buch ohne Erfolg auf die Antwort nach der Frage suchen, wie viel Land eine Stadt benötigt, um sich komplett vom eigenen Territorium zu ernähren. Auch Zukunftsszenarien wie das von Dickson Despommier, der in vertikalen Farmen mit bis zu dreißig Stockwerken die städtische Bevölkerung bodenunabhängig auf Nährlösungen versorgen will, finden keine Beachtung. Im vorliegenden Buch geht es nicht um technokratische »Großlösungen«; es will vielmehr zeigen, wie komplex das Themenfeld Urban Gardening »verdrahtet« ist und welche spannenden neuen Sichtweisen es ermöglicht.

Im ersten Teil des Buches wird das Phänomen der Rückkehr der Gärten in die Stadt zeitdiagnostisch behandelt. Hier sind gesellschafts- und sozialtheoretische Beiträge untergebracht, aber auch wirtschaftswissenschaftliche und agrarwissenschaftliche Zugänge tragen dazu bei, das Themenfeld »Gesellschaft und Garten« aus innovativen Blickwinkeln zu reflektieren.

Im Eröffnungsbeitrag zum ersten Buchteil verorte und rahme ich das Phänomen Urban Gardening und beleuchte seine unterschiedlichen Dimensionen anhand von mehreren Fallbeispielen. Der Facettenreichtum der allerorts entstehenden Gemeinschaftsgärten ermöglicht einen neuen Blick auf den Lebens- und Handlungsraum Stadt. Sie sind Transmitter, Medium und Plattform für so unterschiedliche Themen wie Local Food, Stadtökologie oder neue Formen der Demokratie. In den Gärten wird auf eine verblüffend pragmatische Weise mit konstruktiven Praxen experimentiert, die vom Eigenbau vertikaler Gemüsebeete über die Schaffung innerstädtischer Naturerfahrungsräume bis zum Einbezug marginaler Bevölkerungsschichten reichen. Hier scheinen die ersten Konturen komplexer Lebensstile auf, die in der Lage sind, die Grundlagen der Existenz zu erkennen, wertzuschätzen und in einem kooperativen, lebensbejahenden Sinne zu »bewirtschaften«.

Karin Werner liest die neuen urbanen Gartenaktivitäten aus den »performances« ihrer Akteure als Orte des Widerstands. Die Kultursoziologin attestiert sowohl dem neuen Vertrauen in Gemeinschaft wie auch zum Beispiel dem Zusammensein mit Pflanzen und den damit verbundenen Praxen der Fürsorge ein widerständiges Potenzial gegen die herrschende neoliberale Ordnung, denn die im Garten geforderte verbindliche Hinwendung lässt nur wenig Raum für »Flexibilität« und andere Anforderungen des neoliberalen Regimes. Karin Werners Beitrag versucht zu entziffern, was die jungen Städter kollektiv in den Garten treibt und was sie dort finden. Die Autorin interessiert sich für Gärten als Sozialräume neuen Typs sowie die damit zusammenhängenden neuen Formen des Politischen. Instruktiv im Hintergrund läuft dabei Foucaults Konzept der Gouvernementalität.

Cordula Kropp unterscheidet städtische Gärten der Industriemoderne von den neuen urbanen Gärten, die sie zur Reflexiven Moderne zählt und damit im Kontext von globalen ökonomischen und ökologischen Krisen, sich verschärfenden transnationalen Ungleichheiten und dem Prekärwerden der Erwerbsarbeit verortet. Urbane Gärten stellen aus ihrer Sicht die Gewissheiten des Entweder-oder der Industriemoderne in Frage und ziehen viele neue Misch- und Reflexionsformen des Sowohl-als-auch nach sich. Die Soziologin nimmt in ihrer Analyse zudem fruchtbare Anleihen an Bruno Latour, der die Moderne nicht nur von verschiedenen Menschen, sondern auch von Natur und technischen Artefakten bevölkert sieht, »die uns längst mitregieren und deren Anwesenheit wir kaum zur Debatte gestellt haben«. Ausgestattet mit diesem theoretischen Handwerkszeug diskutiert Cordula Kropp die Frage, inwiefern mit der »Rückkehr der Gärten in die Stadt« auch um eine zukunftsfähige Komposition von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren gerungen wird.

Mit den materiellen Dimensionen urbanen Gärtnerns befasst sich der Ökonom Niko Paech, und zwar unter der innovativen Fragestellung, welche Bedeutung Subsistenzräume wie Gemüsegärten als »stoffliche Nullsummenspiele« für eine Postwachstumsökonomie haben können. Der Autor entwickelt theoretische Grundlagen, mit denen sich die ökonomische und soziale Notwendigkeit neuer Formen von Subsistenz und ein ausbalanciertes Verhältnis von Fremd- und Selbstversorgung begründen lassen. Dabei geht er von der Erkenntnis aus, dass unendliches Wachstum in einer endlichen Welt nicht realisierbar ist. Die Schlagworte der aktuellen Debatte hierzu lauten: Peak Oil, Peak Soil, Peak Everything. Die Postwachstumsökonomie, die Paech in seinem Beitrag als Alternative zum »Fremdversorgungsdilemma« theoretisch fundiert, ermöglicht eine differenzierte Betrachtung der unterschiedlichen Dimensionen des an sich vielfältigen ökonomischen Handlungsrepertoires. Die Etablierung lokaler Versorgungssysteme im Nahrungsbereich wird dabei als zentraler konzeptioneller Bestandteil eingeordnet.

Obwohl die neuen urbanen Gärten kollektive Gebilde sind, verstehen sich einige ihrer Akteure auch als soziale Unternehmer, die beispielsweise in der Gestaltung der Flächen frei von Vorgaben sein wollen. Diese Haltung findet ihre Entsprechung in neuen Praktiken der Kreativwirtschaft. Der Metropolenforscher Bastian Lange beobachtet, dass sich eine junge Generation auf den Weg macht, innovative aber zugleich pragmatische Lösungen als Antwort auf komplexe soziale, ökologische und kulturelle Verunsicherungen zu entwickeln: Dies sind häufig Kulturen des Selbermachens, kollektive Ansätze, die unideologisch die Jetztzeit und den Nahraum gestalten wollen. Viele der Sozialpraktiken der jungen Raumpioniere mit Bezug auf Gärten sind hier zutreffend eingeordnet, wobei Langes Fokus auf der Frage liegt, wie angesichts komplexer sozialer, ökologischer und kultureller Verunsicherungen die Stadt zum gesellschaftlichen Kristallisationsort für zukunftsweisende Lösungen wird.

Silke Borgstedt betrachtet die urbanen Gärten vor dem Hintergrund der aktuellen Erkenntnisse der empirischen Trendforschung. Sie identifiziert drei Trends, die den Boom der urbanen Gärten erklären: So ist allgemein zu beobachten, dass...

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