Hundert Jahre Zärtlichkeit - Surrealismus, Bürgertum, Revolution
von: Pierre-Héli Monot
Matthes & Seitz Berlin Verlag, 2024
ISBN: 9783751820523
Sprache: Deutsch
200 Seiten, Download: 1491 KB
Format: EPUB, auch als Online-Lesen
1.
Kapitulation: Zum bürgerlichen Selbstmord
»wie will man da irgendwelche Zärtlichkeit oder Toleranz zeigen gegenüber einem wie auch immer gearteten sozialen Konservierungsapparat? Das wäre wirklich der einzige Wahnsinn, der für uns unannehmbar wäre.«4
André Breton, Zweites Manifest des Surrealismus, 1930
Unter welchen Bedingungen verschreibt sich die intellektuelle Bourgeoisie eigenmächtig und glaubwürdig der Revolution? Welche historischen, politischen, ökonomischen und kulturellen Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit ideologisch und ökonomisch dominante Schichten (Ärzte und künftige Ärzte, Funktionäre und künftige Funktionäre, Gelehrte und wohlgelahrte Stipendiaten, Journalisten und Volontäre) gerade diejenigen Strukturen angreifen, die ihre Herrschaftsansprüche begründen? Wann und warum erklärt sich der bourgeois, der Bürger und Bildungsbürger, der sozial dominante citoyen, zum Selbstmörder und Opfertier?
Unter den heute noch halbwegs geläufigen westeuropäischen intellektuellen Bewegungen des 20. Jahrhunderts ist der Surrealismus die historisch letzte, die sich als bürgerliches Klassengebilde ihrer Selbstsabotage eigenmächtig und glaubwürdig hingegeben hat. Beide Adjektive sind hier essenziell. Ob die Surrealisten in ihrer Hingabe zur Revolution erfolgreich oder nachahmenswert gewesen sind, spielt in diesem Buch dagegen eine untergeordnete Rolle.
Dennoch markiert das surrealistische Experiment eine historische und ideologische Zäsur im politischen Bewusstsein der intellektuellen Klasse. Spätere bürgerliche Bewegungen der Nachkriegszeit (Mai 19685, die überwiegend akademischen Traditionen der 1980er und 1990er Jahre, der europäische und US-amerikanische Neokonservatismus) waren nicht (bzw. waren nicht sehr und waren somit letztlich kaum) revolutionär.6 Auch inthronisierten sie unter ihren Vordenkern ausgerechnet jene, die zwar die teils obszönsten revolutionären Sehnsüchte bedienten, aber für eine ausgesprochen reformistische Politik warben (Michel Foucault statt Cornelius Castoriadis, Judith Butler statt Luce Irigaray usw.). Effektiv revolutionäre Bewegungen der jüngeren Gegenwart (zahlreiche territoriale Unabhängigkeitsbewegungen, die erste, linke Welle der Gilets Jaunes, die autonomen Gruppierungen in Chiapas), das heißt solche, in denen aus den theoretischen Ambitionen auch praktische Mittel folgen, sind wiederum nicht bürgerlich. Auch inthronisieren sie keine Intellektuellen. Die Surrealisten allein erfüllten Anfang der 1920er Jahre das doppelte Kriterium einer bürgerlichen und revolutionären Bewegung gegen das europäische Bürgertum. Als Letzte schrieben sie sich das Programm einer totalen Veränderung menschlicher Existenz auf die Fahnen, durch die sie alle Prärogative ihres bürgerlichen Intellektuellentums verloren hätten. Warum?
Diese erste Frage lädt dazu ein, eine zweite zu stellen: Warum gelingt es den bürgerlichen Schichten westlicher, hochtechnologischer, kapitalistischer, liberaler, demokratischer Gesellschaften nicht, jene grundlegende Transformation zu bewerkstelligen, der, schenkt man den Beteiligten Glauben, die politische Wirklichkeit dringend unterzogen werden müsste? Tatsächlich scheint es für Grundlegendes nicht an Motivation zu mangeln, trotz einer prächtigen und unzweifelhaften Fortschrittsgeschichte – für Frauen, für Minderheiten und für Leute wie mich. Alles: die steigende Ungleichheit der Kapitalverteilung und der Lebenserwartung zwischen Ländern, Klassen, Ethnien und Individuen, die Privatisierung der Gewinne, die Sozialisierung der Verluste, die Fiktivität ökonomischer Maßeinheiten (Übung: definiere die nichtfiduziarische Substanzialität eines »Dollars« und definiere den Wert dieser Substanzialität selbst), allgemein die Esoterik der Wirtschaftswissenschaften (eine Disziplin, deren prognostische Verlässlichkeit bestenfalls mit der der Astrologie der Renaissance vergleichbar ist), der neuerliche Rückgang der Lesefertigkeit bei Akademikern in Europa und den Vereinigten Staaten,7 die sinkende durchschnittliche Lebenserwartung in westlichen Gesellschaften seit 2018, die funktional-dysfunktionale Neutralisierung des Protests zu teils verbalen, teils symbolischen, allenfalls kostenneutralen Ansprüchen auf Gerechtigkeit, die mondäne Vereinnahmung realer sozialer Fortschritte, die obszöne Geschichtsvergessenheit der managerialen Amtssprache (Henri de Castries, damals CEO von Axa, im Jahr 2012: »Arbeit ist Freiheit«8; de Castries ist im Übrigen ein Nachfahre des Marquis de Sade9), die Tabuisierung des Extremismus der Mitte10, die unaufhaltsame Zerstörung von Biosphäre und Biodiversität, die Zersetzung sozialer Gemeinschaften durch Flexibilitäts- und Disponibilitätsansprüche, die Privatisierung öffentlich finanzierter Forschungsergebnisse, die Überwachung, das Abhören, die Lohnabhängigkeit als Schicksal, die Massenarbeitslosigkeit, die militärischen Nichtinterventionen im Namen der geopolitischen Multipolarität, die Migrantenhavarien und so weiter und so fort. Die Begründbarkeit solcher Klagen (es sind die quasi aller, mit denen ich beruflich verkehren könnte) ist hier nebensächlich. Am Promoviertenstammtisch, wie auch in den dominanten Schichten der westlichen Gesellschaft im Allgemeinen, ist die Katze aus dem Sack. Empirischen Erhebungen zufolge halten 74 Prozent der Besserverdienenden mit akademischem Abschluss den Kapitalismus für ein ungerechtes System. 56 Prozent halten ihn sogar für schädlich.11 Man müsste hier allerdings eine logische Schlussfolgerung hinzufügen: 18 Prozent der Besserverdienenden mit akademischem Abschluss halten also einen ungerechten Kapitalismus für unschädlich.
Die Unfähigkeit, sich effektiv und angemessen solchen apokalyptischen Problemen zu stellen, ist für die gegenwärtige Formation des Kapitalismus ebenso kennzeichnend, wie es diese Probleme selbst sind. Das ist, historisch betrachtet, faszinierend genug. Die langsame Zersetzung aller politischen Handlungsfähigkeit scheint sowohl zu den objektiven politischen Strukturen der Gesellschaft als auch zum subjektiven politischen Fatum ihrer mündigen, gelähmten Bürger zu gehören: Sie können nicht. Bürgerlichkeit verpflichtet höchstens zu einer kollektiven, verbalen Ablehnung des Unrechten und des Unhaltbaren; doch nur in den seltensten Fällen zieht das Bürgertum aus dieser Haltung praktische Konsequenzen, die zu einer effektiven, sei es auch nur reformistischen Klärung und Durchsetzung jener gesellschaftlichen Transformationen führen könnten, die allseits als notwendig erachtet werden. Das Phänomen wurde lärmend als reflexive impotence tituliert, also als eine subjektive Inkorporation objektiver Strukturen in Zeiten des »kapitalistischen Realismus«12 gedeutet: Weil es uns leichter fällt, uns das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus, werden wir ihm ausgeliefert bleiben; weil wir etwas nicht tun, glauben wir, dass wir es ohnehin nicht tun könnten. Das wusste allerdings schon Spinoza – mit gewitzteren philosophischen und politischen Schlussfolgerungen.13
Auf diese Lähmungsdiagnosen folgten die wunderlichsten scholastischen Inversionen: Es sei der Kapitalismus selbst, nicht die Bürger, der sich aus politischen Belangen zurückgezogen habe.14 Der Ambivalenz des Phänomens wird das schwerlich gerecht. Wie es zu dieser Kopplung von gesellschaftlicher Einsicht und politischer Passivität kommen konnte, wie dieses Zusammenspiel von bürgerlicher Entrüstung und politischer Tetanie zum primären Realitätsbezug eines wesentlichen Teils der westlichen, sich selbst als »bildungsnah« bezeichnenden Schichten werden konnte, davon vermitteln diese Großerzählungen kein historisches Verständnis. Westliche Gesellschaften sind besser als je zuvor über ihre eigene Dysfunktionalität informiert; noch nie haben Menschen so souverän über das Elend der Welt sprechen können. Zugleich ist die Möglichkeit einer effektiven, diesem Elend angemessenen Handlungsfähigkeit nie so stringent verneint worden. Wieso will man, kann aber nicht? Wieso wollte André Breton, inwiefern konnte er? Wichtiger noch: Wieso hatte er überhaupt die Vorstellung, es zu können?
Wäre der Surrealismus nicht schulisch, kunstgeschichtlich und politisch verschüttet, würde er in der gegenwärtigen Konstellation entscheidend sein. Schon immer wird er systematisch von den je hegemonialen Gelehrtenkulturen abfällig behandelt, und dies schon seit Erscheinen der ersten surrealistischen Manifeste. Dagegen kamen auch Walter Benjamin und die Situationisten nicht an. Es reicht ein Blick auf die pädagogische Zurichtung einer literarischen...