Filmgenres: Fantasy- und Märchenfilm
von: Andreas Friedrich
Reclam Verlag, 2004
ISBN: 9783159503080
Sprache: Deutsch
255 Seiten, Download: 1766 KB
Format: PDF, auch als Online-Lesen
Sechse kommen durch die Welt (S. 83-84)
DDR 1972 f 69 min
R: Rainer Simon
D: Manfred Freitag, Joachim Nestler (nach dem gleichnamigen
Märchen der Brüder Grimm) K: Roland Gräf
M: Peter Rabenalt
D: Jir¡í Menzel (der Soldat), Günter Schubert (der Starke), Friedo Solter (der Läufer), Olga Strub (Schiefhütchen), Christian Grashof (der Fiedler), Jürgen Gosch (der Jäger), Margit Bendokat (Prinzessin), Jürgen Holtz (König)
Schon die ersten Bilder signalisieren, worauf es Rainer Simon in seiner Märchenadaption Sechse kommen durch die Welt ankam: Mit Hilfe der Grimmschen Vorlage wollte er, als Parabel auf die Gegenwart, die Borniertheit der Herrschenden karikieren und zugleich die Kraft der vermeintlich Schwachen beschwören. Seinen Film verstand er als philosophisches Gleichnis über die Veränderbarkeit der Zustände, als cineastische Paraphrase auf Brechts Satz: »Das Große bleibt groß nicht, und klein nicht das Kleine. « Dass sich der Regisseur ausgerechnet Anfang der 70er-Jahre diesen Märchenstoff zu Eigen machte und mit aktuellen subversiven Untertönen versah, war durchaus kein Zufall: Er kommentierte damit sowohl die bleierne Endzeit der Ära Ulbricht als auch die gewaltsame Niederschlagung des Prager Frühlings 1968. Schon die Besetzung der Hauptfigur lässt keinen Zweifel daran, auf wessen Seite Simon dabei stand.
Für die Rolle des mutigen Soldaten, der sich gegen den König auflehnt, engagierte er seinen tschechischen Kollegen Jir¡í Menzel, der während des Prager Frühlings Filme wie Scharf beobachtete Züge (1966) oder den verbotenen Lerchen am Faden (1968/69) inszeniert hatte und nach 1969 in der C¡ SSR eine Zeit lang mit Berufsverbot belegt worden war. Allein die Ouvertüre macht den Gegenwartsbezug deutlich. Wie die Machthaber in stalinistischen Diktaturen verleiht sich auch der Herrscher des Landes Malabunt seine Orden selbst: in diesem Fall den »Großen Stern der Unvergesslichkeit«. Und weil eine Schlacht gewonnen wurde, dekoriert er auch seine Marschälle – die sich als Pappkameraden entpuppen – mit Siegesorden. Von Bildern der üppigen königlichen Festtafel schneidet Rainer Simon dann auf dürre, zerlumpte, stoppelbärtige Gestalten: jene Soldaten, die den Sieg errangen.
»Wir hatten herrlich viele Tote«, ruft ihnen der König zynisch entgegen, »und ich will vergessen, dass ihr immer noch lebt«. Entsprechend karg fällt der Sold aus: drei Heller Zehrgeld pro Person. Ein junger Soldat, der sich mit Pfiffen dagegen auflehnt, wird schnurstracks ins Verlies geworfen. Aber selbstbewusst prophezeit er seinem Herrscher, dass dieser ihm eines Tages die Schätze des ganzes Landes herausgeben müsse.
Der Soldat bleibt nicht allein. In den folgenden Episoden trifft er auf Menschen, die jeweils eine herausragende Eigenschaft besitzen. Doch ihre Kreativität ist gebremst. Die Umstände haben sie dazu gebracht, sich lieber in der Masse zu verstecken als aufzufallen – denn das könnte ihren Untergang bedeuten. Oder sie sind so verfangen im profanen Alltag, dass sie nicht mehr wissen, wozu sie wirklich fähig sind. So will der Starke, in Ketten geschmiedet, lieber im Kerker hocken, weil er draußen mit seiner Kraft angeblich alles zerstöre.
Der Läufer benutzt die Gabe der Schnelligkeit nur, um sich Nahrung zu beschaffen. Der Fiedler wagt nicht mehr, ein Instrument zu benutzen, weil seine Kunst die Menschen zum Tanzen zwingt – bis zur Erschöpfung. Sein Credo lautet »Lieber ohne Fidel als ohne Kopf«, und auch dies war im Stalinismus gleichnishaft zu verstehen. Fünfte im Bunde der »ungewöhnlichen Leute« ist das Mädchen Schiefhütchen, deren besonderes Talent sich erst später offenbart.