Paarberatung und -therapie bei unerfülltem Kinderwunsch

Paarberatung und -therapie bei unerfülltem Kinderwunsch

von: Heike Stammer, Rolf Verres, Tewes Wischmann

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2004

ISBN: 9783840914584

Sprache: Deutsch

149 Seiten, Download: 1419 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Paarberatung und -therapie bei unerfülltem Kinderwunsch



2 Gesellschaftlicher Kontext (S. 25-26)

Die individuelle und gesellschaftliche Bewertung einer Familiengründung hat sich in den letzten Jahrzehnten in hohem Maße gewandelt (Ochs & Orban, 2002). Beeinflusst wurde dieser Wandel von der Entwicklung der modernen Geburtenkontrolle, die eine Schwangerschaft vermeintlich planbar macht. Frauen sind nicht mehr so stark auf die Mutterrolle fixiert. Männer versuchen die Vaterrolle neu zu besetzen. Paarbeziehungen sind nicht mehr grundsätzlich an die Bildung einer gemeinsamen Familie gekoppelt. Junge Paare widmen sich zunächst der Verwirklichung anderer Lebensziele mit der Option, mithilfe der assistierten Reproduktion den Kinderwunsch in einem späteren Lebensabschnitt realisieren zu können: Eine neuere Umfrage ergab, dass in der Altersgruppe der 18- bis 30-Jährigen 35 % der Befragten „alle medizinisch möglichen Verfahren" zur Erfüllung des Kinderwunsches in Anspruch nehmen würden, während die Gruppe der 41- bis 50-Jährigen sich eher mit der Kinderlosigkeit abfinden bzw. ein Kind adoptieren würde (Brähler & Stöbel-Richter, 2004). Kinder haben in der Moderne eine neue Bedeutung in der Gesellschaft bekommen, wie wir im Folgenden zeigen wollen.

2.1 Psychologie des Kinderwunsches

Kinderwunsch wurde aus psychologischer Sicht im deutschsprachigen Raum – mit der Ausnahme des Buches von Gloger-Tippelt, Gomille und Grimmig (1993) – bis vor einigen Jahren relativ wenig untersucht. Strauß (1991) führt dieses in erster Linie darauf zurück, dass der Wunsch nach einem Kind im Allgemeinen als „biologisches Grundrecht" gesehen wird. Theoretische Überlegungen zum Kinderwunsch wurden eher aus psychoanalytischer Sicht angeboten und setzen bisher insbesondere an intrapsychischen Motiven an. Groß (1999) stellt in ihrer umfassenden Arbeit den Kontext des Kinderwunsches aus historischer, biologischer und anthropologischer, psychoanalytischer, psychosomatischer und sozialwissenschaftlicher Sicht dar. Sie kommt zu der Einschätzung, dass die heutige Definition der Mutterrolle – das Kind liebend und für es sorgend – historisch relativ jung ist und sich erst mit der Entwicklung der bürgerlichen Familie im Laufe des 18.

Jahrhunderts formte. Zuvor behandelten Mütter – und Väter – ihre (keineswegs immer erwünschten) Kinder häufig mit Desinteresse und auf eine aus heutiger Sicht oft als grausam zu bezeichnende Art (z. B. Aussetzen von Kindern, Ammenwesen, körperliche Züchtigung und strengste Erziehung). Im Unterschied zu humanethologischen Autoren (z. B. Eibl-Eibesfeldt, 1989) kommt die Autorin zu der Einschätzung, dass sich aus der biologischen Forschung keine gesicherten Hinweise auf einen Mutter- schaftsinstinkt oder einen Fruchtbarkeitstrieb bei Menschen ableiten lassen. Der Kinderwunsch in seiner heutigen Form – als eine Lebensoption für Frauen – kann als ein Phänomen der Moderne betrachtet werden, da erst die Möglichkeit einer zuverlässigen Kontrazeption überhaupt eine tatsächliche Wahlfreiheit zwischen Mutterschaft und gewollter Kinderlosigkeit ermöglicht hat. Nach Groß (1999) ist es bereits ein Ergebnis geschlechtsspezifischer Erziehung, dass junge Frauen bereitwillig davon ausgehen, sie müssten das Vereinbarkeitsproblem von Beruf, Familie und Arbeit bewältigen. Im Gegensatz dazu scheinen Männer ihren beruflichen Werdegang weitgehend ohne Berücksichtigung eines Kinderwunsches zu planen.

Strauß (1991) konstatiert, dass allem Anschein nach der Kinderwunsch des Mannes lediglich stärker verdrängt und deshalb bisher auch theoretisch weniger berücksichtigt wurde. Zusammenfassend resümiert Groß: Der Kinderwunsch ist weder biologisch noch instinktiv verankert. Es gibt keine Beweise für einen menschlichen Fortpflanzungstrieb. Lediglich die Interaktion zwischen Säuglingen und Erwachsenen basiert auf gewissen instinktiv verankerten Mechanismen. Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die Zuweisung von Familienarbeit an Frauen ist hingegen Resultat kultureller Tradition. In diesem Sinne existiert kein natürlicher Kinderwunsch, denn erst die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung ermöglicht einen expliziten Kinderwunsch. Nur durch zuverlässige Kontrazeptiva ist es möglich, eine Schwangerschaft bewusst herbeizuführen oder auszuschließen. Erst diese Wahlfreiheit bietet die Voraussetzung für Wünsche. Ob Kinder in früheren Zeiten erwünscht, unerwünscht oder als Ergebnis der Sexualität einfach akzeptiert wurden, darüber sind keine verlässlichen Aussagen möglich. (a. a. O., S. 338)

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