Natur- und Umweltschutz nach 1945 - Konzepte, Konflikte, Kompetenzen
von: Franz-Josef Brüggemeier, Jens Ivo Engels (Hrsg.)
Campus Verlag, 2005
ISBN: 9783593377315
Sprache: Deutsch
380 Seiten, Download: 3060 KB
Format: PDF, auch als Online-Lesen
Powered by Emotion? Affektive Aspekte in der westdeutschen Kernenergiegeschichte zwischen Technikvertrauen und Apokalypseangst (S. 203-204)
Albrecht Weisker
Apokalyptik ist die Kehrseite der Utopie. Es gibt zahlreiche Epochen in der Geschichte, die sich als ein Narrativ menschlicher Träume und Ängste begreifen lassen, Prometheus und Kassandra sind ihre archetypischen Protagonisten. Dass auch die Mensch-Umwelt-Beziehungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch dieses Muster geprägt sind, soll hier am Beispiel der Geschichte der Atomkraft in der Bundesrepublik bis etwa 1980 skizziert werden. Einerseits faszinieren die Menschen die Möglichkeiten neuzeitlicher Naturbeherrschung durch moderne Wissenschaft und fortschrittliche Technik, andererseits schrecken sie vor deren Katastrophenpotenzialen zurück.
Als paradigmatisch für diese sich unter verschiedenen politischen, kulturellen und sozialen Bedingungen wandelnde Risikowahrnehmung gilt die friedliche Nutzung der Atomenergie. Am Beginn der Formationsphase einer westdeutschen Umweltbewegung steht ab etwa 1970 der kritische Diskurs über die technische Sicherheit und politische Verantwortbarkeit der Kernenergie. Die Perzeption der friedlichen Nutzung der Kernenergie in der Bundesrepublik wandelte sich zwischen den fünfziger und den siebziger Jahren von einer optimistischen Zukunftserwartung zu einer an Dämonisierung grenzenden, mit nahender Apokalypse assoziierten Negativvision. Utopischen Hoffnungen von technokratisch-planmäßiger Machbarkeit des Fortschritts folgte kaum zwanzig Jahre später angesichts der ausgebliebenen Verheißung gleichsam unbegrenzter und kostengünstiger Energieressourcen durch Atomstrom eine herbe Ernüchterung. Misstrauen, Skepsis und verbreitete Ängste lösten den umfangreichen Vertrauensvorschuss ab, den die Kernenergie als Verkörperung modernster Technologie einst genossen hatte. Das progressive Paradigma, das aus den USA starke Impulse bezogen und den verbreiteten Fortschrittsglauben getragen hatte1, brach unter dem Druck einer weltwirtschaftlichen Baisse und wachsender Kritik zusammen.
Der zentrale Grund für die veränderte Sicht auf die Atomenergie war eine umfassend gewandelte Risikowahrnehmung. Während man sich anfangs über Proliferationsgefahren sowie Unfall- und Strahlenrisiken nur wenig Gedanken gemacht hatte, gewannen diese Aspekte in der öffentlichen Debatte der siebziger Jahre erheblich an Gewicht. Diese Risiken für Mensch und Umwelt waren qualitativ völlig neu. Sie unterschieden sich von anderen anthropogenen Umweltgefahren bzw. von Individuen freiwillig eingegangenen Risiken aufgrund ihrer potentiellen Schadensdimension, der Universalität der Betroffenheit im Unglücksfall, der befürchteten Irreversibilität der Strahlenschäden und die besondere Problematik nuklearen Abfalls.
Viele damit verbundene Fragen sind gut erforscht. Während zum Verlauf der Anti-AKW-Proteste und den Argumenten innerhalb der Kontroverse eine umfangreiche Literatur existiert, ist jedoch die Frage, welche Rolle affektive, emotionale und psychologische Variablen in diesem Prozess spielten, bislang noch nicht beantwortet. Überhaupt hat sich die Geschichtswissenschaft den Problemen der Emotionengeschichte und Psychohistorie nur sehr zögerlich genähert. In einer Zeit jedoch, wo sogar Jürgen Habermas die Macht der Gefühle als Gründungsmoment eines politisch geeinten Europa beschwört, scheint es an der Zeit, sich erneut Gedanken über Zugänge zu einer Geschichte der Emotionalität zu machen4. Dabei hat die aktuelle Debatte um die Neue Kulturgeschichte einmal mehr bewiesen, dass es zu den fruchtbarsten Optionen des Historikers zählt, eine wohl überlegte Neukombination verschiedener theoretischer Ansätze zu entwickeln, um so mit innovativen Fragestellungen dem (womöglich bereits bekannten) Quellenmaterial neue Aussagen zu entlocken.