Nordseefluch - Kriminalroman

Nordseefluch - Kriminalroman

von: Theodor J. Reisdorf

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2013

ISBN: 9783838718972

Sprache: Deutsch

240 Seiten, Download: 515 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Nordseefluch - Kriminalroman



1


Mein Vetter Hannes aus Grevenbroich hatte sich im besten und teuersten Hotel der Insel Juist einquartiert und uns zu einem kostenlosen Wochenendbesuch eingeladen. Meiner Frau war der Besuch nicht nach der Nase. Sie befürchtete, mein trinkfester Vetter würde mich mit Beschlag belegen, während sie mit unseren Söhnen in einem kahlen Hotelzimmer sitzen würde.

Als wir am Schiffsanleger die voll besetzte »Frisia X« verließen und uns – nur mit kleinem Gepäck belastet – in Richtung Dorf begaben, umfing uns der Charme der Insel. Der blaue Himmel zeigte keine Wolke und der leichte Seewind half, die Hitze zu ertragen. Wir gingen über die Bahnhofstraße und bogen in die Wilhelmstraße ein. Ich wusste, dass wir eine Abkürzung finden konnten, wenn wir ein Stück der Marktstraße folgen würden.

Überrascht blieb ich stehen. Manfred Kuhnert, ein Schüler, der mir mit seinen vielen Fehlstunden Sorgen und Ärger bereitet hatte, bevor er von der Schule abgegangen war, bediente im weißen Kittel unter einem Baldachin eine Softeismaschine. Seine gebräunte Hand lag auf dem Hebel und gelbes und braunes Eis floss in ein Hörnchen. Ich beobachtete, wie er es einem halbwüchsigen hübschen blonden Mädchen mit einem Pferdeschwanz reichte und zu ihm sagte: »Hier, nimm.« Ich sah, dass das Mädchen nach seiner kleinen weißen Plüschhandtasche griff, doch Manfred schüttelte den Kopf und sagte: »Ich schenke es dir.«

Das Mädchen, das eine gelbe Latzhose und ein marineblaues T-Shirt trug, lächelte und nickte dankend. Dann stopfte es sich mit der Linken die kleinen Kopfhörer ihres MP3-Players in die Ohren und ging davon.

Im Sonnenlicht leuchtete der winzige Ring in Manfreds Ohr auf. Es war ein Minianker, den er nach alter Seemannsmanier trug. Sein Gesicht zeigte bereits eine gute Bräune. Ich trat zu ihm.

»Hallo, Manfred, wie geht es dir?«, fragte ich ihn und hatte den Schulärger vergessen.

Manfred war elternlos in Hage im St. Nikolausstift aufgewachsen.

»Hallo, Herr Färber. Wie Sie sehen, kann ich nicht klagen. Oberschwester Ursula hat mir den Job und auch eine Bude besorgt.«

»Zwei Eis für meine Söhne«, sagte ich und wies auf meine Familie, die vor dem Schaufenster des See-Shops wartete.

Ich bezahlte und roch den starken Alkoholdunst seines Atems.

Er reichte mir die Hörnchen und sagte: »Tschüss.«

Als wir uns dem Strandschlösschen näherten, fragte meine Frau: »Wer war der Junge?«

»Ein ehemaliger Schüler«, sagte ich. »Er hat das Rennen aufgegeben. Er wollte die Welt verbessern. Nun verkauft er Eis.«

Ich freute mich auf den Anblick des Meeres, der uns in wenigen Minuten bevorstand.

Niemand von uns konnte ahnen, welche schicksalhaften Folgen die Begegnung mit Manfred Kuhnert nach sich ziehen würde. Im Gegenteil, der Blick von der Strandpromenade auf das blaue Meer, vor dem sich der Sandstrand hinzog, erfüllte uns mit Freude. Bunte Strandkörbe saßen wie Farbtupfer im zerfließenden Gelb und die Wellen liefen schaumig in Weiß aus. Strandhafer neigte sich im lauen Wind, der über die Dünen strich.

»Wenn die Sonne scheint, ist Juist schöner als Mallorca«, sagte meine Frau.

Unsere Söhne liefen voller Vorfreude dem Hotel entgegen. Im Strandschlösschen händigte uns ein Angestellter an der Rezeption die Schlüssel aus und schob uns einen Brief zu.

Mein Vetter Hannes teilte uns mit, dass die Zimmer bezahlt waren und wir uns um neunzehn Uhr im Restaurant des Hotels treffen würden. Wir suchten die Zimmer auf und machten uns ein wenig frisch.

Meine Söhne, meine Frau und ich setzten uns an den feierlich gedeckten Tisch, den uns der Ober anwies. Um uns herum befanden sich Gäste, denen wir ansahen, dass sie zu der gehobenen Schicht zählten, die sich mehr leisten konnte.

Mein Vetter Hannes, ein schwergewichtiger, gemütlicher und gutmütiger Typ, erschien. Er lachte verschmitzt, zeigte auf die Schönheit, die sich lächelnd neben ihn setzte und uns heimlich musterte.

Hannes sagte laut: »Evi ist ab heute meine Verlobte!«

Die Überraschung war perfekt. Hannes hatte keine Lust verspürt, das Verlobungsfest zu Hause bei seiner ständig nörgelnden Mutter zu feiern, und wir begriffen, dass er es als eine Ehre für uns betrachtete, mit ihm das Fest feiern zu dürfen. Wir gratulierten und versprachen, ein Geschenk nachzureichen.

Der Tisch stand so, dass wir alle durch das Fenster aufs Meer schauen konnten. Im abgeschrägten Winkel blickten wir von oben herab auf die schaumgekrönten Wellen, die sich donnernd auf den Strand ergossen.

Meine Frau lehnte Sekt ab, wünschte sich Sprudel wie die Söhne, und ich bestellte mir Kaffee. Mein Vetter, der darauf achtete, dass das Futter seiner Reit- und Rennpferde an Kalorientabellen gemessen wurde, bestellte sich einen halben Liter Bier und für seine schöne Braut Wein und blickte mich missmutig an, als er »Prost« sagte.

»Die Alte zu Hause weiß noch nichts«, sagte er und küsste seine hübsche Braut Evi.

Kellnerinnen und Kellner fuhren auf. Es war ein herrliches Essen, das fern meines Gehaltsgefüges lag.

Irgendwie störte mich die ungewohnte Umgebung und die Selbstverständlichkeit, mit der Vetter Hannes und Braut Evi die Speisen genossen.

Am Horizont tauchte die tiefrote Sonne ins Meer. »Gleich müssen wir noch einen trinken«, sagte mein Vetter, während er genussvoll schmatzte.

Ich sah den heimlichen Blick meiner Frau, den sie auf eine antike Uhr des Nobelrestaurants richtete und dabei ihr Essbesteck ablegte. Sie wäre lieber mit mir über die Dünen gewandert, dachte ich, den Blick auf das Meer gerichtet, um zu genießen, was den Kopf klar hielt.

Ich bemerkte irritiert die Unruhe, die die Bedienung ergriff. Kellner und Serviererinnen fanden sich am Tresen zusammen, tuschelten und vergaßen ihre Bestellungen. Ein Ober warf in Hast seine schwarze Bedienungsjacke über einen Stuhl und verließ das Restaurant. Vom Nachbartisch erhob sich ein Gast, eilte zum Tresen und verschwand ebenfalls eilig nach draußen.

»Da ist etwas passiert«, sagte ich.

Die Sirene, die, wie ich wusste, auf dem Dach der Kirche angebracht war, rief zum Feueralarm. Mein Vetter, zu Hause spendabler Feuerwehrmann, horchte auf.

»Das geht mich zwar nichts an, aber ich möchte wissen, was hier los ist«, sagte er und stand auf.

Die Hiobsbotschaft erreichte uns. Eine wohlhabende Familie aus Oldenburg, die hier im Haus eine der teuersten Wohnungen gemietet hatte, vermisste ihre Tochter Marion. Sie war zwölf Jahre alt und nicht wie gewohnt nach Hause gekommen.

Der Geschäftsführer stand sprachlos vor den Gästen.

»Entführung?«, fragte eine ältere Dame.

Die Insel Juist, Idylle, Kleinod, Bastion gegen Stress, verspürte zum ersten Mal seit ihrem Bestehen als Kurort den Bazillus des Verbrechens.

Vor dem Tresen wurde laut diskutiert.

Das romantische Bild der rot untergehenden Sonne vor den schäumend auslaufenden Wellen und stürzenden und segelnden Möwen fand keine Betrachter mehr. Die Nachricht hatte die Wirkung einer Bombenexplosion. Auch wir waren besorgt, schoben die Teller zusammen und hofften auf eine glückliche Lösung, wie auch immer.

»Bei euch hier oben?«, fragte mein Vetter vorwurfsvoll, und seine Braut meinte: »Das passt nicht in den Frieden dieser Landschaft.«

Ich schaute auf die Uhr. Es war kurz vor zwanzig Uhr.

Der Geschäftsführer betrat das Restaurant, schlich mit hochrotem Kopf und gefalteten Händen über die echten Perserteppiche und gab sich einen Ruck, als er die Mitte des Raumes erreicht hatte.

»Bis jetzt suchen die Eltern mit ihren Bekannten erfolglos nach dem vermissten Mädchen. Soeben haben sich die freiwillige Feuerwehr und das DRK mit technischem Gerät eingeschaltet. Die Polizei bemüht sich um Verstärkung vom Festland. Das ist der Stand der Dinge.«

Die so überraschend inszenierte Verlobungsfeier erstarb in den trüben Gedanken, die uns befielen. Mein Vetter bestellte Getränke, die wir zwischen ernsten Gesprächen zu uns nahmen. Schließlich erhielt der Geschäftsführer neue Informationen. Als er in unserer Nähe stand, fragte mein Vetter: »Wie stark ist Ihre Feuerwehr?«

»Zurzeit sind es etwa zwanzig Mann, die nach dem Mädchen suchen, aber sie haben Großalarm gegeben. Jetzt werden weitere zwanzig Mann zu ihnen stoßen. Wir erwarten Polizeiverstärkung vom Festland. Sie wird eingeflogen«, antwortete der Mann, der unter dem Geschehen sehr zu leiden schien, denn schließlich besuchte die Familie seit Jahren an sonnigen Wochenenden das Nobelhaus.

Die frisch verlobte Evi räusperte sich. »Vielleicht können wir uns an der Suche beteiligen?«, fragte sie und blickte uns an.

Der Geschäftsführer nickte.

»Der Bürgermeister möchte die Insel von Wasserkante zu Wasserkante durchkämmen lassen. Dazu benötigt er viele Leute.«

»Das Essen und die Getränke setzen Sie bitte auf meine Rechnung«, sagte mein Vetter.

»Ich bleibe mit den Kindern auf den Zimmern«, sagte meine Frau.

Als wir das Restaurant verließen, ging die Sonne unter. Viele Menschen, Einheimische und Fremde, strömten zusammen. Ein Lautsprecherwagen fuhr über die sonst autofreien Straßen.

»Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe Kurgäste. Vermisst wird Marion. Sie ist zwölf Jahre alt. Sie trägt ihr langes blondes Haar zurückgekämmt zu einem Pferdeschwanz. Sie ist etwa ein Meter vierzig groß und mit einer gelben Latzhose und einem marineblauen T-Shirt bekleidet. Marion ist sehr kontaktfreudig und auffallend hübsch. Beteiligen Sie sich bitte an unserer Suche!«

Juist stand Kopf. Der Bürgermeister teilte die Suchtrupps auf. In zwei Gruppen sollten sie den Weg vom Kirchplatz einmal...

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