Das Kartengeheimnis

Das Kartengeheimnis

von: Jostein Gaarder

Carl Hanser Verlag München, 2013

ISBN: 9783446242395

Sprache: Deutsch

352 Seiten, Download: 6730 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Das Kartengeheimnis



PIK AS


... da radelte ein deutscher Soldat über die Landstraße...

Unsere große Reise ins Heimatland der Philosophen begann in Arendal, einer alten Hafenstadt in Südnorwegen. Wir setzten auf der Bolero von Kristiansand nach Hirtshals über, und über die Fahrt durch Dänemark und Deutschland gibt es nicht viel zu erzählen. Abgesehen von Legoland und dem riesigen Hamburger Hafen sahen wir im Grunde nur Autobahnen und Bauernhöfe. Erst, als wir die Alpen erreichten, passierte wirklich etwas.

Wir hatten eine Abmachung, mein Vater und ich. Ich durfte nicht sauer sein, wenn wir lange fahren mußten, ehe wir irgendwo zum Übernachten haltmachten, und er durfte im Auto nicht rauchen. Dafür beschlossen wir, viele Zigarettenpausen einzulegen. Diese Zigarettenpausen sind mir von der ganzen Fahrt in die Schweiz am besten in Erinnerung.

Sie fingen immer damit an, daß mein Vater einen kleinen Vortrag über etwas hielt, was er sich unterm Fahren überlegt hatte, während ich auf dem Rücksitz Micky Maus las oder Patiencen legte. Meistens ging es um etwas, das mit Mama zu tun hatte. Wenn nicht, verbreitete er sich über irgendeins von seinen Lieblingsthemen.

Seit er nach vielen Jahren auf See an Land gegangen war, interessierte er sich zum Beispiel für Roboter. Das wäre noch nichts Besonderes gewesen, aber bei ihm war damit lange nicht Schluß. Er war nämlich überzeugt, daß es der Wissenschaft eines Tages gelingen würde, künstliche Menschen herzustellen. Damit meinte er nicht solche bescheuerten Metallroboter, die mit roten und grünen Lämpchen leuchten und mit hohler Stimme reden. Nein, mein Vater glaubte, daß die Wissenschaft eines Tages richtige denkende Menschen, so wie uns, herstellen würde. Und das war noch nicht mal alles: Er hielt im Grunde alle Menschen jetzt schon für solche künstlichen Figuren.

»Wir sind quicklebendige Puppen«, sagte er oft, und besonders gern, wenn er ein oder zwei Gläschen intus hatte.

Als er in Legoland versonnen vor den vielen Legomenschen stand, fragte ich ihn, ob er an Mama denke, aber da schüttelte er nur den Kopf.

»Stell dir vor, das alles würde plötzlich lebendig, Hans-Thomas«, sagte er. »Stell dir vor, all diese Figuren liefen plötzlich zwischen den Plastikhäuschen herum. Was würden wir dann machen?«

»Du spinnst«, sagte ich bloß, denn ich war mir sicher, andere Väter, die mit ihren Kindern Legoland besuchten, redeten keinen solchen Stuß.

Ich beschloß, ihn um ein Eis zu bitten. Ich wußte nämlich schon, daß ich ihn am besten dann um etwas bat, wenn er mit seinen verschrobenen Ideen anfing. Ich glaube, er hatte ein bißchen ein schlechtes Gewissen, weil er mir ständig mit solchen Themen kam, und wer ein schlechtes Gewissen hat, neigt bekanntlich zur Freigebigkeit. Gerade wollte ich den Mund aufmachen, da sagte er: »Im Grunde sind wir selber solche lebendigen Legofiguren.«

Mein Eis war gesichert: Mein Vater kam endgültig ins Philosophieren.

Wir wollten nach Athen, aber nicht um normale Sommerferien zu machen: In Athen – oder jedenfalls irgendwo in Griechenland – wollten wir Mama suchen. Es stand nicht fest, ob wir sie finden würden, und wenn, stand nicht fest, ob sie mit uns nach Norwegen zurückkommen würde. Aber wir mußten es versuchen, sagte mein Vater, denn weder er noch ich konnte den Gedanken ertragen, für den Rest unseres Lebens ohne Mama auskommen zu müssen.

Mama war von Vater und mir weggegangen, als ich vier Jahre alt war. Deshalb nenne ich sie wohl immer noch »Mama«. Meinen Vater hatte ich nach und nach besser kennengelernt, und eines Tages war es mir nicht mehr richtig vorgekommen, ihn »Papa« zu nennen.

Mama wollte hinaus in die Welt, um sich selber zu finden. Mein Vater und ich sahen sogar ein, daß es für die Mutter eines vierjährigen Jungen allmählich Zeit wird, sich selber zu finden, und bestärkten sie in ihrem Vorhaben. Ich konnte nur nie begreifen, warum sie dazu fortgehen mußte. Warum konnte sie das nicht zu Hause in Arendal in Ordnung bringen – oder sich wenigstens mit einem Ausflug nach Kristiansand begnügen? Ich rate allen, die sich selber finden wollen, an Ort und Stelle zu bleiben. Sonst ist die Gefahr groß, daß sie sich endgültig verirren.

Mama war vor so vielen Jahren weggegangen, daß ich nicht mal mehr richtig wußte, wie sie ausgesehen hatte. Ich wußte nur noch, daß sie viel schöner war als alle anderen Frauen. Das sagte jedenfalls mein Vater. Er meinte auch, daß es für eine Frau desto schwieriger wird, sich selber zu finden, je schöner sie ist.

Ich hatte Mama seit ihrem Verschwinden überall gesucht. Jedesmal, wenn ich über den Marktplatz von Arendal ging, glaubte ich sie plötzlich zu sehen, und wenn ich Großmutter in Oslo besuchte, hielt ich ständig nach ihr Ausschau. Aber ich sah sie nie. Ich sah sie erst, als mein Vater diese griechische Modezeitschrift anschleppte. Dort war Mama – auf dem Titelbild und innen im Heft. Die Bilder zeigten ziemlich deutlich, daß sie sich noch immer nicht gefunden hatte. Denn es war nicht meine Mutter, die da abgebildet war: Sie versuchte ganz offensichtlich, einer anderen zu ähneln. Mein Vater und ich hatten schreckliches Mitleid mit ihr.

Die Modezeitschrift hatte meine Großtante aus Kreta mitgebracht. Dort hatte sie mitsamt den Bildern von Mama an jedem Zeitungskiosk gehangen. Man brauchte nur ein paar Drachmen über den Tresen zu schieben, schon hatte man sie. Ich fand diesen Gedanken fast ein bißchen komisch. Hier hatten wir jahrelang nach Mama gesucht, und da unten lächelte sie in aller Öffentlichkeit von einer Titelseite.

»Wo zum Henker ist sie denn da reingeraten?« fragte Vater und kratzte sich am Kopf. Trotzdem schnitt er die Bilder aus und hängte sie im Schlafzimmer auf. Lieber Bilder von einer, die Mama ähnlich sah, als gar keine, fand er.

Und dann beschloß er, daß wir nach Griechenland fahren müßten, um sie zu suchen.

»Wir müssen versuchen, sie wieder nach Hause zu schaffen, Hans-Thomas«, sagte er. »Ich habe Angst, daß sie sonst in diesem Modeabenteuer ertrinkt.«

Ich verstand nicht ganz, wie er das meinte. Ich hatte schon gehört, daß man in einem weiten Kleid ertrinken konnte, aber ich wußte nicht, daß das auch in Abenteuern geht. Heute weiß ich, daß alle Menschen sich davor in acht nehmen müssen.

Als wir bei Hamburg auf einem Autobahnrastplatz hielten, fing Vater an, über seinen Vater zu erzählen. Ich kannte die ganze Geschichte schon, aber hier, wo die vielen deutschen Autos an uns vorüberbrausten, war es doch etwas anderes. Es ist nämlich so, daß mein Vater ein Deutschenkind ist. Es macht mir jetzt nichts mehr aus, das zu sagen, denn inzwischen weiß ich, daß Deutschenkinder genauso in Ordnung sein können wie alle anderen Kinder. Aber ich habe gut reden. Ich habe nicht am eigenen Leibe zu spüren bekommen, wie es ist, in einer kleinen Stadt in Südnorwegen ohne Vater aufzuwachsen.

Sicher sprach mein Vater gerade jetzt über meine Großeltern, weil wir in Deutschland waren.

Alle wissen, daß es nicht so leicht ist, sich im Krieg etwas zu essen zu besorgen. Das wußte auch meine Großmutter, als sie mit dem Rad nach Froland fuhr, um Preiselbeeren zu pflücken. Sie war damals erst siebzehn. Das Problem war, daß sie eine Reifenpanne hatte.

Dieser Preiselbeerausflug gehört zu den allerwichtigsten Ereignissen meines Lebens. Es hört sich vielleicht seltsam an, daß das vielleicht wichtigste Ereignis meines Lebens mehr als dreißig Jahre vor meiner Geburt gelegen haben soll; aber wenn meine Großmutter an diesem Sonntag keine Panne gehabt hätte, wäre mein Vater nie geboren worden. Und wenn er nicht geboren worden wäre, dann hätte ich auch keine Chance gehabt.

Was also passierte, war, daß meine Großmutter mit einem Korb voller Preiselbeeren oben in Froland eine Reifenpanne hatte. Sie hatte natürlich auch kein Flickzeug bei sich, und selbst wenn sie das beste Flickzeug der Welt dabeigehabt hätte, hätte sie ihr Rad kaum allein flicken können.

Und da radelte ein deutscher Soldat über die Landstraße. Obwohl er ein Deutscher war, war er nicht besonders kriegerisch. Er war sogar sehr höflich zu der jungen Frau, die ihre Preiselbeeren nicht nach Hause schaffen konnte. Außerdem hatte er Flickzeug.

Wäre mein Großvater einer der gemeinen Rüpel gewesen, für die wir alle deutschen Soldaten, die damals in Norwegen waren, gerne halten, hätte er einfach an Großmutter vorbeifahren können. Aber darum geht es natürlich nicht. Vielmehr hätte Großmutter den Kopf in den Nacken werfen und sich weigern müssen, von der deutschen Besatzungsmacht Hilfe anzunehmen.

Das Problem war, daß der deutsche Soldat die junge Frau, der das Unglück passiert war, schließlich gern hatte. Na ja, und an ihrem größten Unglück war er dann auch schuld. Aber das war erst einige Jahre später.

Wenn er an diesem Punkt angekommen ist, steckt sich mein Vater immer eine Zigarette an. Es war nämlich so, daß meiner Großmutter der Deutsche auch gefiel. Das war das Blöde an der Sache. Sie bedankte sich nicht nur bei meinem Großvater, weil er ihr Fahrrad repariert hatte, sie war auch bereit, mit ihm zusammen nach Arendal zu fahren. Sie war ungehorsam und dumm, das steht fest. Aber das allerschlimmste war, daß sie bereit war, sich auch weiter mit dem Unteroffizier Ludwig Meßner zu treffen.

So verliebte sich meine Großmutter in einen deutschen Soldaten. Leider können wir es uns nicht immer aussuchen, in wen wir uns verlieben. Aber sie hätte beschließen müssen, sich nicht wieder mit ihm zu...

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