Das Paradies ist weiblich - Eine Reise ins Matriarchat
von: Ricardo Coler
Aufbau Verlag, 2010
ISBN: 9783841200525
Sprache: Deutsch
178 Seiten, Download: 570 KB
Format: EPUB, auch als Online-Lesen
16 (S. 120-121)
Tsie holt mich ab. Im Dorf gibt es einen Mann, der mit einer Frau zusammenlebt, sie will mich zu ihm führen. Er heißt Chu Tsi und ist zweiundvierzig. Wenn ein nicht blutsverwandter Mann bei einer Matriarchin einzieht, gibt es dafür eigentlich nur einen Grund: Ihre Familie ist männerlos, das heißt, es gibt weder Brüder noch Cousins, und auf dem Hof wird dringend männliche Unterstützung benötigt.
Normalerweise wird in einem solchen Fall zunächst daran gedacht, einen fernen Verwandten der Matriarchin zu adoptieren, etwa den Sohn ihrer Cousine. Nur wenn das nicht möglich ist, greift man auf einen Fremden zurück, zum Beispiel den Vater der Kinder. Unsere Form des Zusammenlebens ist für sie die letzte Wahl, doch zur Sicherung des Lebensunterhalts sind sie im Notfall auch dazu bereit. Wir betreten das Haus. Im Halbdunkel des Wohnraums sitzt ein Mann und raucht. Mit der letzten Glut der einen zündet er sich die nächste Zigarette an.
Tsie stellt uns einander vor und verabschiedet sich dann. Chu Tsi ist schlank und wortkarg, sein Gesicht ausdruckslos. Nach eigenen Angaben stammt er aus armen Verhältnissen. Er lebt mit seiner Partnerin und seinen Töchtern zusammen, die er als seine Angehörigen bezeichnet. Mehr sagt er nicht dazu. Doch man spürt, wenn man diesem ketterauchenden Mann mit den hängenden Schultern gegenübersitzt, dass er sich als Gefangenen der Umstände betrachtet, fernab von seiner eigentlichen Bestimmung. Als er gefragt wurde, ob er bei der Frau leben wolle, mit der er eine Besuchsehe pflegte, so berichtet Chu Tsi, habe er sich mit seiner engsten Vertrauten, seiner Mutter, beraten.
Gemeinsam hätten sie finanzielle Not und möglichen Nutzen abgewägt, mit dem Ergebnis, dass Chu zu den jungen Frauen zog. »Ist es denn nicht schön, mit einer Frau zusammenzuleben? « »Bei meiner Familie, das war eine schöne, unbeschwerte Zeit.« Jetzt steht Chu Tsi unter der Vormundschaft seiner ältesten Tochter, der Matriarchin. Er sagt, man behandle ihn gut und er liebe die Mädchen wie seine eigenen Nichten, doch er vermisse sein früheres Leben. Er spricht von sich wie von einem alten Mann. »Wären Sie gern das Familienoberhaupt?« »Bei den Frauen ist man in den besten Händen.« Ich will wissen, ob seine Töchter ihn an irgendetwas hinderten, das er gern tun würde, oder ob sie ihm etwas verböten. Nein, nein, sagt er, keineswegs, außer lange auszugehen und mit Freunden zu trinken. Dann gäben sie ihm kein Geld mehr. Aber ansonsten habe er keinerlei Schwierigkeiten.