War Hitler krank? - Ein abschließender Befund

War Hitler krank? - Ein abschließender Befund

von: Henrik Eberle, Hans-Joachim Neumann

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2010

ISBN: 9783838705033

Sprache: Deutsch

336 Seiten, Download: 1709 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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War Hitler krank? - Ein abschließender Befund



1.    WAHN, KONSTRUKTION UND WIRKLICHKEIT: WOZU EINE MEDIZINISCHE HITLER-BIOGRAFIE?


»Eigentlich ist Hitler nie krank gewesen«, sagte Hitlers langjähriger Leibarzt Professor Dr. med. Theodor Morell im September 1945 zu Professor Dr. med. Karl Brandt, dem chirurgischen Begleitarzt des Führers. Ob Morell diesen Satz tatsächlich genau so äußerte, wissen wir nicht. Fest steht, dass Brandt, der wenig später wegen seiner Verbrechen gehenkt wurde, diesen Satz Morells seinem amerikanischen Vernehmer im Lager »Camp Siebert« so ins Protokoll diktierte. Brandt und Morell saßen gemeinsam in einer Zelle des Internierungslagers ein und sprachen, wenn sie miteinander redeten, über Hitler.

Kein Jahr zuvor war Brandts Karriere abrupt zu Ende gegangen – Morells wegen und wegen einer »Gelbsucht« Hitlers, die Brandt auf eine jahrelange Falschbehandlung des Führers und Reichskanzlers durch dessen Leibarzt zurückführte. Morell habe Hitler »abhängig« gemacht von »mobilisierenden, d.h. aufpeitschenden Arzneien«, meinte Brandt, und außerdem überflüssigerweise mit Vitaminen und Sulfonamiden behandelt. Die ganze deutsche Ärzteschaft habe sich »dafür geschämt«, dass ein Mensch mit derart »primitiven Anschauungen« Hitlers Leibarzt hatte werden können.1

Glaubwürdig sind die Äußerungen beider Ärzte nicht. Brandt biederte sich mit seinen ausführlichen Aussagen über Morell und Hitler bei den amerikanischen Offizieren an, um seinen Kopf zu retten. Ihm war klar, dass er für den Mord an mehr als 70000 Menschen zur Verantwortung gezogen werden würde, denn er war es, den Hitler 1939 mit der Tötung der »unheilbar Geisteskranken« beauftragt hatte.2 Morell wiederum befürchtete, dass er bald an seiner Herzerkrankung sterben könnte; ihm ging es um sein Bild in der Geschichte. Er versuchte Brandt, trotz häufiger Herzattacken und gelegentlicher Desorientierungsphasen, zu suggerieren, dass er Hitler keinesfalls falsch behandelt hätte. Er rechtfertigte sich immer wieder und lenkte Brandt bewusst davon ab, dass er Hitler durchaus wegen ernst zu nehmender Krankheiten behandelte.

Der Streit der beiden Professoren3 in einer Gefängniszelle hat, im wahrsten Sinne des Wortes, Geschichte geschrieben. Denn die einander widersprechenden Aussagen der Ärzte Brandt und Morell bestimmen die historische Debatte bis heute. Noch immer suchen Ärzte, Psychologen und Historiker nach den Erklärungen für die Völkermorde, die in der Zeit des Nationalsozialismus begangen wurden, und widmen sich unter verschiedenen Blickwinkeln notwendigerweise auch den Krankheiten, Erkrankungen und angeblichen Perversionen des Diktators. Noch intensiver forschten die Zeitgenossen nach Erklärungen: Warum waren sie einem Mann gefolgt, der die größte Katastrophe in der deutschen Geschichte verursacht hatte? Dabei dachten sie nicht an die Millionen Ermordeten, sondern an ihr eigenes Leid, die Millionen toten Soldaten, die Teilung des Landes, an Flucht und Vertreibung.

Die Erklärung, Hitler sei größenwahnsinnig geworden, irgendwann »übergeschnappt« und vielleicht doch irgendwie »krank gewesen«, war die einfachste und naheliegendste. Nicht wenige Bücher verbreiteten nach 1945 die Legenden vom »guten Beginn« des NS-Regimes und seiner Entartung. Kein Zweifel: Bis 1939 war Hitler für die meisten Deutschen der »Hoffnungsträger der Nation«4, Millionen hatten das Gefühl, politisch ernst genommen und verstanden zu werden.5 Umso enttäuschter wandten sie sich von ihm ab, als sie sahen, in welches Elend er sie stürzte und welche verbrecherischen Handlungen er in deutschem Namen begehen ließ.6 Nicht selten wurde die Frage gestellt: »Was wäre gewesen, wenn …« Zum Beispiel, wenn Hitler 1938 oder auch 1944 einem Attentat zum Opfer gefallen wäre.7 Nicht zuletzt erhofften sich die Leser dieser Bücher ebenso wie deren Autoren, etwa die unzähligen Verfasser von Memoiren, auch Entlastung. Der Historiker Hannes Heer brachte die Stimmung der Nachkriegsjahre auf den Punkt: »Hitler war’s.«8 Und wenn Hitler allein verantwortlich war und man sich in ihm nicht völlig getäuscht haben sollte, dann lag es nahe, an einen Hitler zu glauben, dessen Persönlichkeit sich verändert hätte, vielleicht sogar unter dem »schädlichen Einfluss« seines Leibarztes Theodor Morell. Denn jener hatte Hitler, so will es das Gerücht, mit »Drogen« vollgepumpt und völlig falsch behandelt.9

Analysierende Zeitgenossen kamen zu anderen Schlüssen. Die Verschwörer des 20. Juli 1944 erkannten in Hitlers Persönlichkeit das Übel an sich und versuchten, ihn zu eliminieren.10 Auch der aus Österreich emigrierte Psychiater Walter C. Langer attestierte Hitler 1943 in einem Gutachten für den CIA-Vorläufer OSS »sadistische Züge« und suizidale Neigungen. Für ihn war klar, dass Hitler den Krieg keinesfalls vorzeitig beenden würde. Erst nach dessen Tod, so der Psychiater, könne in Europa Frieden herrschen. Langers Diagnose, so ungenau sie sich aus heutiger Sicht im Detail präsentiert, sollte sich zumindest in diesem Punkt bestätigen.11 Das Ergebnis ist bedrückend. Mehr als 55 Millionen Menschen wurden während des Zweiten Weltkriegs getötet. Sie starben durch Kampfhandlungen und vorsätzlich geplanten Völkermord.

Nicht zuletzt deshalb haben Generationen von Fach- und Amateurhistorikern versucht, Hitlers apokalyptisches Wirken in der Geschichte zu erklären. Eine Reihe von Büchern aus der Feder namhafter Historiker nimmt in der Hitler-Literatur einen festen Platz ein. Zu nennen ist hier vor allem der britische Historiker Ian Kershaw, der mit seiner zweibändigen Hitler-Biografie Maßstäbe setzte.12 Kershaw rekonstruierte Hitlers Entscheidungen und sein Handeln, ohne sich auf das Glatteis psychologischer Erklärungen zu begeben. Psychologen hätten zwar immer wieder versucht, herauszufinden, »was genau falsch war mit Hitler«. Jedoch glaube er nicht, »dass wir das wissen müssen«. Schon deshalb sei eine psychohistorische Diagnose schwierig, weil Hitler eben »nie auf einer Couch« gelegen hätte und wir schlichtweg zu wenig über seine Kindheit und seine Adoleszenz wüssten.13 Trotzdem »diagnostizierte« Kershaw in seinem aktuellen Werk über die »Wendepunkte« des Zweiten Weltkriegs bei Hitler eine »persönliche paranoide Fixierung auf die Juden« und beschrieb den Holocaust letztlich als die Folge von dessen »kranken Ideen«.14

War die Ermordung von Millionen Menschen also das Ergebnis eines Wahns oder gar einer psychischen Erkrankung?

Die Annäherung an das, was als Wahrheit über Hitler gelten kann, wurde in heftigen Debatten geführt.15 Seit der Oxford-Professor – und Churchill-Mitarbeiter – Alan Bullock 1952 die erste quellengestützte Hitler-Biografie veröffentlichte, ist die Debatte um das »Rätsel Hitler« nicht verebbt.16 Unermüdliche Rechercheure wie Anton Joachimsthaler und Werner Maser beförderten den Erkenntnisprozess ebenso wie deutungsmächtige Publizisten, etwa der FAZ-Herausgeber Joachim Fest und der Stern-Kolumnist Sebastian Haffner.17 Zahllose Historiker wandten sich bestimmten Abschnitten in Hitlers Biografie zu und betrachteten zum Beispiel dessen Wiener Zeit18, edierten seine verschollen geglaubten Schriften19 oder analysierten sein Verhältnis zu Frauen und zur Sexualität.20 Auch die lange Zeit abwartenden deutschen Militärhistoriker haben sich inzwischen zur genauen Bestimmung der Rolle des Obersten Befehlshabers der Wehrmacht, also Hitlers, im Zweiten Weltkrieg durchgerungen.21 Sogar ideologisch fragwürdige Autoren wie der Holocaust-Leugner David Irving oder der Berliner Professor Ernst Nolte trugen zum Erkenntnisprozess bei, nicht zuletzt deshalb, weil sie neue Quellen erschlossen, Denkanstöße gaben und polemische Fragen stellten, die von seriösen Historikern anders beantwortet werden mussten.22 Doch erst nach dem Ende des Kalten Kriegs gelang es, ein stabiles Fundament von Fakten und Erkenntnissen über Ingangsetzung, Durchführung, Ausmaß und Beteiligte des Völkermords zu legen, das seriöses Argumentieren ermöglicht.23 Gesamtdarstellungen der Judenvernichtung etwa von Saul Friedländer, Christopher Browning und Peter Longerich sind das Ergebnis jahrzehntelanger Forschung.24 Sie ermöglichen nun endlich auch die genaue Rekonstruktion der Rolle Hitlers in diesem Vernichtungsprozess.

Der inzwischen erreichte Stand der Forschung erlaubt es jetzt, die medizinische Biografie des Diktators neu zu bewerten.

Als bisher zuverlässigste Studie aus diesem Bereich muss das Buch Patient Hitler von Ernst Günther Schenck gelten. Die Studie des 1945 entlassenen Hochschullehrers trägt keine persönliche Handschrift und enthält keine politischen Wertungen, wohl auch deshalb, weil Schenck als SS-Standartenführer tief in die Verbrechen des NS-Regimes verstrickt war.25

Als Fritz Redlichs medizinische Biografie über Hitler erschien,26 schrieb Christina Berndt am 24. November 1998 in der Süddeutschen Zeitung, dass mit seinem Werk nun »eine umfassende medizinische wie psychologische Biografie des Diktators« vorliege, die Ian Kershaw sogar als »die gründlichste Erforschung von Hitlers Gesundheitszustand« bezeichnete, »die es je gab«.27 So detailliert Redlichs Analyse ist, sind jedoch nicht alle Zitate hinreichend belegt, nicht wenige der herangezogenen Quellen sind von der historischen Forschung als unzuverlässig eingestuft worden.28 Der Diagnose des Seniors der amerikanischen Sozialpsychiatrie, die Hitler als einen »destruktiven und...

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