Versteckt wie Anne Frank - Überlebensgeschichten jüdischer Kinder

Versteckt wie Anne Frank - Überlebensgeschichten jüdischer Kinder

von: Marcel Prins, Peter Henk Steenhuis, Ravensburger Verlag GmbH

Ravensburger Buchverlag, 2013

ISBN: 9783473472697

Sprache: Deutsch

224 Seiten, Download: 1792 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Versteckt wie Anne Frank - Überlebensgeschichten jüdischer Kinder



Die Sterne sind verschwunden

Rita Degen,
geboren in Amsterdam am 25. Dezember 1936

1939, als ich drei Jahre alt war, wurde mein Vater zum Militär einberufen. Die Truppen lagerten in der Nähe einer wichtigen Verteidigungslinie, der Grebbelinie. Meine Mutter und ich fuhren zweimal mit dem Zug dorthin. Mein Vater war da mit einer Gruppe Soldaten, alle in Uniform. Das sah seltsam aus, fand ich. Sie waren auf einem großen Bauernhof untergebracht. Wir konnten in einem eigenen Zimmer übernachten. Mir gefiel es ganz gut dort.

Als der Krieg ausbrach, musste er mit seinem Regiment Richtung Grebbeberg vorstoßen. Dort fanden schwere Kämpfe statt, überall gab es Tote und Verletzte. Das geht völlig schief, dachte er. Woraufhin er sein Fahrrad nahm und nach Amsterdam zurückfuhr. Mitten in der Nacht kam er an, ohne Gewehr und ohne Bepackung. Die hat er wohl irgendwo zurückgelassen.

Mein Vater wollte immer ganz genau wissen, was um ihn herum vorging, auch später im Krieg. Darum suchte er sich eine Stelle beim Judenrat1, der in Amsterdam 1941 im Auftrag der deutschen Besatzungsmacht zur Vertretung der jüdischen Gemeinschaft in den Niederlanden gegründet worden war. Bei einem der ersten Transporte aus Amsterdam hatte er Wachdienst. Was er dort sah, veranlasste ihn, mich sofort untertauchen zu lassen. In derselben Woche sind auch meine Eltern untergetaucht. Mein Vater hatte sich bereits um alle Untertauchadressen gekümmert, nicht nur für uns, sonder auch für seine Eltern und für alle Geschwister meiner Mutter. Sie haben sie nicht genutzt. »Es wird schon nicht so schlimm werden«, sagten sie.

Kurz nachdem meine Eltern untergetaucht waren, wurde ihre Wohnung im Amsterdamer Stadtbezirk Oud-Zuid (Alt-Süd) »gepulst«. Die Firma von Abraham Puls räumte im Auftrag der Deutschen Wohnungen von Juden, die untergetaucht oder bei einer Razzia aufgegriffen worden waren. Wir hatten Glück: Unsere Nachbarn, gute Leute, die einen Schlüssel zu unserer Wohnung hatten, nahmen zuvor alles mit, was sie tragen konnten, und versteckten es. Nach dem Krieg bekamen wir zumindest unsere Fotos zurück, eine Besteckkassette, eine Statue und eine Uhr.

Mein erstes Versteck war in Amsterdam, beim Chef meines Vaters. Er war Jude, aber seine Frau nicht – eine solche Mischehe schien anfangs recht sicher, obwohl es dennoch gefährlich war, dass sie ein jüdisches Mädchen aufnahmen. In dieser Zeit wurde mir erstmals klar, dass ich Jüdin war, ohne dass ich begriff, was es bedeutete.

Bei uns zu Hause waren wir vor dem Krieg alles Mögliche gewesen: Vegetarier und Anhänger allerlei Naturheilverfahren zum Beispiel, und wir waren nicht gläubig. Natürlich gab es Traditionen. Sogar jede Menge: Wir aßen zu Ostern Matzen, meine Mutter backte Gremselich (Gebäck aus Matzen, Rosinen, Mandeln, Sukkade) und wir hatten eine Menora, einen Leuchter, in den wir Kerzen stellten. Vor allem meine Mutter benutzte noch viele jiddische Ausdrücke. Aber das gehörte einfach dazu, für mich war das ganz normal.

Nicht normal war, dass ich ungefähr drei Monate nach Kriegsbeginn nicht mehr in den Kindergarten durfte. Aber nun ja, mein Nachbarsjunge Sjeetje war auch jüdisch und ihm passierte das Gleiche. Also spielten wir eben wieder zusammen, wie wir es auch getan hatten, ehe wir in den Kindergarten gekommen waren.

Als ich untertauchte, war ich fünf, und es würde noch Monate dauern, bis ich sechs würde. Aber ich freute mich schon darauf. Was es bedeutete, Jude zu sein, wurde mir erst an dem Tag ein wenig klarer, an dem meine Untertaucheltern über meinen Geburtstag sprachen.

Mein Untertauchvater, Walter Lorjé, sagte: »Wenn du gefragt wirst, wie alt du bist, sagst du fünf. Du darfst nie sagen, dass du sechs wirst.«

Das fand ich schrecklich: Ich wollte groß sein. »Warum denn nicht?«, fragte ich.

»Wenn du sechs wirst«, antwortete er, »musst du einen Stern tragen.«

Diesen Judenstern hatte man besser nicht, das wusste ich. Meine Mutter hatte auch einen Stern getragen und das war unangenehm. Ich war fünf, ich verstand noch nicht, was es bedeutete, Jude zu sein, aber dass etwas daran nicht gut war, spürte ich. Das Gefühl wurde von Woche zu Woche stärker, vor allem als die Razzien anfingen und sich die Gespräche immer öfter darum drehten, wer aufgegriffen worden war und wer nicht.

Die Familie Lorjé, bei der ich untergetaucht war, hatte drei Kinder. Das älteste, Wim, war fünfzehn. Ab und zu spielten wir zusammen mit seinen Autos. Dann war ich ungeheuer froh. Endlich konnte ich etwas mit jemand zusammen machen! Ich spielte nicht mit anderen Kindern, sah keine Verwandten und ging nicht zur Schule. Obwohl ich sehr lernwillig war, brachte mir niemand etwas bei. Ihre Tochter Marjo jagte mir oft Todesangst ein, nicht vor den Deutschen, sondern vor Käfern, Spinnen, Schmutz, Schnelligkeit und allerlei anderen unwirklichen Gefahren. Ich traute mich nicht mehr, die Toilettenspülung zu drücken, weil ich dachte, da käme alles Mögliche heraus.

Wenn Tante Loes kam, eine Cousine meiner Untertauchmutter, musste ich auf den Spielplatz gehen. Tante Loes war mit dem Mann verheiratet, der das Schreibwarengeschäft meiner Untertauchfamilie führte, einen Verwalter, nannte man das. Weil der Chef, Walter Lorjé, Jude war, hatten die Deutschen diesem Verwalter die Leitung seines Ladens übertragen. Tante Loes kam regelmäßig zu Besuch, um übers Geschäft zu sprechen. Sollte ich ihr zufällig begegnen, musste ich sagen, ich sei Rietje Houtman, die dort drüben wohnte, bei den Nachbarn von gegenüber – so war es vereinbart. Ich musste auf den Spielplatz gehen, bis die Luft rein war, und dann würde ich abgeholt werden.

Dieses Mal lief es anders. Weil Tante Loes sich angekündigt hatte, brachte Marjo mich auf den Spielplatz. Bevor sie wegging, sagte sie: »Tante Loes bleibt nicht lange, du darfst um sechs Uhr nach Hause kommen.« Das hätte sie natürlich niemals sagen dürfen.

Auf dem Spielplatz stand eine Rutsche und es gab ein Karussell, das man selbst anschieben musste. Das ging alleine nicht. Es gab auch ein paar Schaukeln und eine Wippe. Aber allein wippen konnte ich auch nicht. Da saß ich also mit meinem Eimer und meiner Schaufel im nassen Sand eines riesigen Sandkastens. Alle anderen Kinder waren um diese Zeit in der Schule.

Trotzdem war ich nicht allein auf dem Spielplatz, der von einem hohen Maschendrahtzaun umgeben war. Ein Stück weiter, in einem Häuschen neben dem Eingang, saß ein Wächter. Er saß drinnen, ich draußen.

Nach einer Weile wurde mir kalt und ich bekam Durst. Sobald die Kirchturmuhr sechs geschlagen hatte, nahm ich Eimer und Schaufel und rannte nach Hause.

Die Haustür war zu. Ich klingelte, woraufhin oben jemand am Seil zog und die Tür aufsprang. In der Mitte der Treppe stand Tante Loes. Sie sah mich an: »Wer bist du denn?«

Hier stimmte etwas nicht, das wusste ich sofort. »Ich bin Rietje Houtman, ich wohne gegenüber und meine Mutter lässt fragen, ob sie vielleicht ein wenig Zucker bekommen kann.«

Sie drehte sich zu meinem Untertauchvater, der oben stand, um. »Also, wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glatt denken, das hier ist Rieteke Degen.« Dann ging sie an mir vorbei aus dem Haus.

Große Panik. Sofort wurde mein Koffer gepackt und man brachte mich zu jemandem vom Widerstand. Dort verbrachte ich die Nacht. Am nächsten Tag holte mich eine Frau ab. »Hallo«, sagte sie, »ich bin Tante Hil. Wir fahren morgen mit dem Zug nach Hengelo.« Mit dem Zug nach Hengelo. Das war schön, ich war seit Jahren nicht mehr mit dem Zug gefahren.

»In Hengelo«, erzählte Tante Hil am nächsten Tag während der Zugfahrt, »wohnen Tante Marie und Onkel Kees, sehr liebe Leute. Sie warten schon lange auf dich, sie wollen so gern, dass du ab jetzt bei ihnen wohnst. Sie haben auch ein Baby, das noch kein Jahr alt ist.«

Es war eine ziemlich lange Fahrt, und als wir in Hengelo ankamen, hatte Tante Hil mir alles erklärt. Ich wusste, wie Tante Marie und Onkel Kees aussahen, dass ich in einem Eckhaus mit Garten wohnen würde, und ich glaubte wirklich, dass man auf mich wartete.

Kurz bevor wir an dem Haus ankamen, fragte Tante Hil: »Sollen wir uns einen kleinen Spaß erlauben? Du setzt dich mit deinem Koffer vorne auf den Bürgersteig und ich gehe hinten rum. Dann sage ich zu ihnen: ›Ach, ja so was! Jetzt ist Rieteke doch nicht mitgekommen.‹ Das finden sie natürlich sehr schlimm. Als Trost sage ich dann, ich hätte aber ein Päckchen mitgebracht, das vorn auf dem Bürgersteig stehe. Dann schauen sie nach, machen die Tür auf und … Überraschung!«

Natürlich wollte ich das! Tante Hil verschwand hinters Haus.

Eine Weile später ging die Haustür auf. Da stand eine ganz liebe Frau, das sah ich sofort. »Oh Hil!«, rief sie. »Du hast mich an der Nase herumgeführt! Rieteke, wie schön, dass du da bist! Komm schnell rein, dein Zimmer ist schon fertig. Und wie wird Onkel Kees sich freuen, wenn er nach Hause kommt!«

Ich ahnte nicht, dass Tante Hil mich zu ihrer Schwester gebracht hatte, die erst mal über mein Kommen informiert werden musste. Und wie hätte ich es auch vermuten sollen: Das Kinderzimmer war wirklich wunderschön eingerichtet – erst lange nach dem Krieg erfuhr ich von Onkel Kees, dass das Zimmer zwar für ein Kind eingerichtet worden war, das eventuell untertauchen musste, aber nicht speziell für mich.

Tagsüber spielte ich viel in dem großen Garten hinterm Haus und auf dem Bauernhof auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

An...

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