Lenin - Vorgänger Stalins

Lenin - Vorgänger Stalins

von: Wolfgang Ruge

Matthes & Seitz Berlin Verlag, 2013

ISBN: 9783882219159

Sprache: Deutsch

470 Seiten, Download: 919 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Lenin - Vorgänger Stalins



SPÄTER ANLAUF
Vorwort von Eugen Ruge


Wer war Lenin – Putschist oder Revolutionär? Fanatiker oder Prophet? Heilsbringer oder Verbrecher? Mit diesen Fragen haben sich schon viele Lenin-Biografen beschäftigt. Je nach Geschichtsbild und weltanschaulicher Position sind sie zu sehr verschiedenen Ergebnissen gekommen. Marxistische Geschichtsschreiber neigten üblicherweise dazu, in Lenin den Revolutionär und Visionär zu sehen, der einer gesetzmäßigen Entwicklung zum Durchbruch verhalf, während bürgerliche Interpreten in Lenin den Putschisten ausmachten, der eine sich nachweislich nicht auf Mehrheiten stützende Diktatur mit brutaler, ja verbrecherischer Härte errichtete und verteidigte.

Zwischen diesen Extremen bewegen sich die unzähligen Veröffentlichungen über Lenin, und obwohl es inzwischen fast nichts gibt, was über Lenin nicht schon gesagt worden wäre, meine ich, dass es Wolfgang Ruge in der hier vorliegenden politischen Biographie gelungen ist, seine Auffassungen und Kenntnisse über Lenin und die Russische Revolution zu einer aufregenden und qualitativ neuartigen Synthese zu verdichten. Altersweisheit, jahrzehntelange wissenschaftliche Forschungen und nicht zuletzt die ganz persönlichen Lebenserfahrungen von Wolfgang Ruge verbinden sich in diesem Buch auf einzigartige Weise.

Sein Leben ist von Anfang an mit der Figur Lenins verbunden. Wenige Tage vor dem Oktoberumsturz 1917 geboren, wurde Wolfgang Ruge besonders durch seinen Vater, der als überzeugter Kommunist aus dem Ersten Weltkrieg zurückkam, zum Marxisten erzogen. Die Figur Lenins erscheint in Wolfgang Ruges Leben zunächst in heroisierter, verklärter Gestalt.

Diese Verklärung betraf nicht nur die Figur Lenins, sondern auch und vor allem dessen Lebenswerk: Sowjetrussland. Voller Ideale flieht der Jungkommunist Wolfgang Ruge 1933 aus Hitlerdeutschland in die Sowjetunion, wo er – nach Abendschule und Abitur – an der Moskauer Universität Geschichte studierte. Er wurde Zeuge des sich zuspitzenden Machtkampfes zwischen Stalin und den engsten Kampfgefährten Lenins, erlebte die Moskauer Schauprozesse und schließlich das hysterische Umsichgreifen der Gewalt und des Großen Terrors. Nach dem Überfall der Wehrmacht auf die UdSSR wurde er – als »Deutschstämmiger« – zunächst zusammen mit seiner damaligen Ehefrau nach Kasachstan deportiert, und kam ein Jahr später in eines der sogenannten »Arbeits-Besserungs-Lager« im Nordural. Formal als sogenannter »Arbeitsarmist«, faktisch aber als GULag-Häftling, hat er die stalinistische Form der Industrialisierung und Modernisierung des Landes hautnah miterlebt. Von den 16.000 deutschstämmigen Insassen des Lagers 239 überlebten nach seinen Schätzungen zwischen 1941 bis 1944 kaum mehr als 600. Mehr muss an dieser Stelle nicht über den Charakter sowjetischer Arbeitslager gesagt werden. Trotz alledem glaubte Wolfgang Ruge zunächst, dass der Stalinismus nach dem Tode des Diktators prinzipiell überwunden werden könne. Gleichwohl fand sein Nachdenken über geschichtliche Fragen fortan vor dem Hintergrund seiner sowjetischen Erfahrungen statt.

Drei Jahre nach dem Tode Stalins (Wolfgang Ruge hat inzwischen 23 Jahre in der Sowjetunion verbracht, davon vier Jahre im Lager und elf Jahre in der Verbannung) durfte er nach Deutschland, genauer: in die DDR zurückkehren. Hier wird ihm – auch als Zeichen der »Wiedergutmachung« – sofort eine Stelle an der Akademie der Wissenschaften angeboten. Zu seinen ersten Aufgaben im Institut für Geschichte gehören Übersetzungen von noch nicht auf Deutsch erschienenen Werken Lenins.

Sein Arbeitsgebiet als Historiker wird die Zeit zwischen 1917 und 1933. Wenngleich er sich hauptsächlich der deutschen Geschichte widmet, gerät die Sowjetunion dabei niemals aus seinem Blickfeld. Bereits einige seiner ersten Veröffentlichungen befassen sich mit den deutsch-sowjetischen Beziehungen, so zum Beispiel mit der Stellungnahme der Sowjetunion zur Besetzung des Ruhrgebiets oder dem Vertrag von Rapallo, spätere Schriften befassen sich mit der deutschen Novemberrevolution, auf die Lenin seine Hoffnungen setzte, mit dem deutsch-russischen Separatfrieden von Brest-Litowsk und vielen anderen, die Sowjetunion unmittelbar betreffenden Fragen.

Gewiss muss sich auch Wolfgang Ruge in seiner aktiven Zeit im Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR in mancher Beziehung den Vorwurf gefallen lassen, ein »Blatt vor den Mund« genommen zu haben. Nicht immer hat sich der von jahrelanger Repression Geprägte – zumindest nicht öffentlich – zu all seinen Überzeugungen bekannt (wobei auch seine Überzeugungen keine statische Größe waren, sondern im Prozess einer langen Auseinandersetzung reiften). Zum Teil ist seine Zurückhaltung auf seine tief verwurzelte, antikapitalistische Einstellung zurückzuführen. Nur in den westlichen Medien hätte er die Möglichkeit gehabt, zum Beispiel über seine Erfahrungen in der Sowjetunion zu berichten. Gegen diese Möglichkeit sträubte er sich.

Insgeheim beginnt er jedoch in den achtziger Jahren seine Erinnerungen aufzuschreiben (die er erst 2001 zu Ende bringen wird). Er sammelt Material zum Problem des Stalinismus, überlegt, konzipiert. Auch hier kommt ihm seine Zweisprachigkeit zugute: Das immer umfangreichere Material, das durch den Gorbatschow’schen Aufbruch in der Sowjetunion verfügbar wird, ist ihm unmittelbar zugänglich.

Obwohl er die sogenannte »Perestroika« begrüßt, gehen ihm auch Gorbatschows Eingeständnisse und Einsichten hinsichtlich der sowjetischen Geschichte nicht weit genug. Erst recht zermürbt ihn die Stagnation in der DDR. Dennoch erlebt er die sogenannte »Wende« mit zwiespältigen Gefühlen. Der Traum von der sozialistischen Gesellschaft, den er seit seiner Kindheit in sich trägt, dem er einen großen Teil seines Lebens gewidmet, für den er teuer bezahlt hat (nicht nur mit Hunger und Arbeitslager, sondern auch mit dem ihm aufgezwungenen oder, schlimmer noch, selbstgewählten Schweigen) – dieser Traum scheint nun endgültig zerbrochen. Seine berufliche Heimat, das Akademieinstitut, wird abgewickelt. Die DDR-Geschichtsschreibung wird in toto als Geschichtsklitterung abgetan. Auch im persönlichen Leben treffen ihn harte Schläge, so der Tod seiner langjährigen Lebensgefährtin Taissja Ruge.

Zugleich aber wird die Wende zu einem neuen, zum letzten Aufbruch für Wolfgang Ruge: Plötzlich hat sich sein Leben, haben sich die Kämpfe, an denen er teilnahm, die Prozesse, in die er hineingeriet, in Geschichte verwandelt. Der Sozialismus sowjetischer Prägung findet nach siebzig Jahren seinen historischen Abschluss. Seine episodische Natur wird damit offenbar. Nun steht Wolfgang Ruge dem Phänomen Sozialismus nicht mehr als Teilnehmender, sondern als Historiker gegenüber, der gelernt hat, die Dinge im Nachgang zu sichten und zu analysieren.

Von der bürgerlichen Geschichtsschreibung und der bürgerlichen Presse ignoriert, von vermeintlichen »Marxisten« als Abtrünniger beschimpft, beginnt Wolfgang Ruge fieberhaft und vorbehaltlos die Themen abzuarbeiten, die ihn sein Leben lang bewegt haben. In den knapp zwölf Jahren, die ihm bis zu seiner Krankheit bleiben, verfasst er einen wichtigen, vielleicht den wichtigsten Teil seines Werkes.

So vollendet er u.a. die bereits erwähnte autobiografische Schrift über seine Jahre in der Sowjetunion. Dieses Buch gehört zu den bemerkenswertesten Berichten über die Jahre des Roten Terrors im Moskau der 1930er Jahre, insbesondere aber wirft es – aus der speziellen Perspektive des »deutschstämmigen Arbeitsarmisten« – einen Blick auf die unglaubliche Wirklichkeit der sowjetischen Arbeitslager in der Kriegszeit zwischen 1941 und 1945. »Ein Buch, unter das man wie unter die Räder gerät«, wird der Schriftsteller Hermann Kant darüber sagen. »Man denkt, man weiß nun langsam alles über Gefangenschaft, doch wartet dieser Autor, der ein Berichterstatter ist und kein Dichter, mit entsetzlichen Neuigkeiten auf. Wer sie nicht kennt, muss als lückenhaft unterrichtet gelten.«

Nebenbei legt Wolfgang Ruge 1991 eine kompakte Abhandlung mit dem Titel »Stalinismus – eine Sackgasse im Labyrinth der Geschichte« vor, verfasst über 50 Artikel und Aufsätze in Zeitungen und Zeitschriften und schließlich, von Herbst 1995 bis Frühjahr 1996, den hier vorgelegten Vorlesungszyklus über Lenin.

Es ist symptomatisch für die politische Vereinsamung von Wolfgang Ruge, dass er die größten Schwierigkeiten hat, seine Schriften nach 1989 in angemessener Form zu publizieren, obwohl beispielsweise sein oben erwähntes autobiografisches Buch sogar von den etablierten Feuilletons mit großem Respekt zur Kenntnis genommen wird.

Seine zahlreichen Aufsätze, die sich thematisch immer mehr auf den Oktoberumsturz 1917 und die damit zusammenhängenden Fragen fokussieren, veröffentlicht Wolfgang Ruge zum größten Teil in der ehemaligen SED-Zeitung Neues Deutschland. Augenscheinlich um Wandel und Toleranz bemüht, hält ihm die Geschichtsredaktion des ND die Treue, auch als es empörte Leserbriefe (und sogar Morddrohungen) hagelt, so zum Beispiel nach seinem bereits 1990 (!) erschienenen Beitrag mit dem vielsagenden, bereits auf Lenin abzielenden Titel: Wer gab Stalin die Knute in die Hand?

Für die geradezu in ihm angestauten Kenntnisse und Gedanken über das einstige Idol Lenin, versucht Wolfgang Ruge erst gar nicht, einen Verlag zu finden – ja er versucht nicht einmal, diese in einer Monografie zusammenzufassen. Dass er, was er über Lenin mitzuteilen hatte, dennoch in konzentrierter Form niederschrieb, ist einem glücklichen Zufall zu verdanken, nämlich der Tatsache, dass...

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