Jedes Kind hat seine Stärken - Typgerecht erziehen, seelische Nöte erkennen, Kompetenzen fördern

Jedes Kind hat seine Stärken - Typgerecht erziehen, seelische Nöte erkennen, Kompetenzen fördern

von: Christine Kaniak-Urban

Kösel-Verlag, 2003

ISBN: 9783466304837

Sprache: Deutsch

200 Seiten, Download: 7488 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

geeignet für: Apple iPad, Android Tablet PC's Online-Lesen PC, MAC, Laptop


 

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Jedes Kind hat seine Stärken - Typgerecht erziehen, seelische Nöte erkennen, Kompetenzen fördern



Überlebensstrategie 3: Das eigene Selbst schützen und immunisieren (S. 35-36)

Paul ist zehn Jahre alt und besucht die 4. Klasse. Seine Mutter und seine Lehrerinnen führen seit Jahren einen Kampf um die leidigen Hausaufgaben. Jedes Mal, wenn Paul seinen Schulranzen auspackt, beginnt das Herz seiner Mutter rascher zu schlagen: Ist das neu angeschaffte knallrote Hausaufgabenheft zu finden? Stehen die Hausaufgaben drin? Hat Paul Buch und Hefte dabei?

Ist diese erste Klippe umschifft, setzt sich Pauls Mutter neben ihn und steht erst wieder auf, wenn der Schulranzen fertig verschlossen auf den nächsten Tag wartet. Weil sich Paul in der Schule wie zu Hause von jeder kleinsten Veränderung im Umfeld ablenken lässt, kennt er den Stoff nur bruchstückhaft. Mühsam ergänzt die Mutter die fehlenden Glieder. Wenn Paul bei den Hausaufgaben allein gelassen wird, ist er bald ins Spiel mit seinen Playmobil-Figuren vertieft oder er liegt auf dem Bett mit dem Walkman-Knopf im Ohr. Ähnlich verhält es sich mit Pauls Probearbeiten. Paul lässt sie wochenlang nicht unterschreiben, und schließlich sind die Blätter oder Hefte nicht mehr auffindbar.

Was ursprünglich mit großen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben begann, dehnte sich inzwischen auf andere Fächer aus. Paul heimst nur noch schlechte Noten ein, und sein Stand bei den Klassenkameraden ist sehr gesunken. Niemand in der Klasse will mehr neben ihm sitzen.

Kein Kind kommt faul oder unaufmerksam auf die Welt. Vielmehr leben Kinder im Grundschulalter in einer Entwicklungsphase, in der sie in die Welt eintreten und sich in ihr selbständig betätigen wollen. Sie entwickeln eigene Interessen und die Parole heißt: Ich bin, was ich leiste. Und welcher Ort wäre besser für ein solches Vorhaben geeignet als die Schule! Im Jugendalter dagegen trägt Schulleistung wesentlich zur Identitätsfindung bei und spielt bei den enorm wichtigen Beziehungen zu den Gleichaltrigen eine große Rolle. Man möchte als so clever dastehen, dass die Leistung mit möglichst geringem Lernaufwand erreicht wurde.

Lernbemühen wird aus diesem Grunde verschwiegen oder verringert. Es muss also einen Grund haben, warum Kinder Dinge für die Schule vergessen, verschweigen, nicht mehr wissen. Auch hier sind Eltern und Lehrer zunächst irritiert, wenn ich sie darauf aufmerksam mache, wie »vernünftig« ihr Kind handelt, wenn es bei anhaltendem Misserfolg in der Schule weder über den Schulstoff noch über seine Hausaufgaben Bescheid weiß. Ein solches Kind verlässt das Feld des Misserfolgs, es vermeidet jede Berührung damit.

Da es nun einmal in der Schule körperlich anwesend sein muss, zieht es stattdessen seine Aufmerksamkeit ab. Auf diese Weise verschafft das Kind seiner Seele und seinem Geist ein wenig Erholung und baut einen Schutzwall auf, der es vom Ort der Erniedrigung abschirmt. Und bei schlechten Noten kann ein solches Kind ruhigen Gewissens sagen: »Das interessiert mich alles ohnehin nicht!« Ein solcher Kommentar ist sehr entlastend für das durch Versagen und Erniedrigung gekränkte Kind. Außerdem tragen Kinder mit solchen Abwendungsstrategien zur Immunisierung ihres psychischen Organismus bei. Sie lassen von ihren Versagensängsten nur so viel zu, wie sie ertragen können.

Dass im Laufe der Zeit sie sich selbst schaden und dergestalt Hilfe brauchen, dass die Ausgewogenheit zwischen Anforderung und Vermögen wiederhergestellt ist und auf diese Weise die Schutzmechanismen überflüssig werden, ist jedem vertraut, der diesen Weg mit Kindern und ihren Familien zu gehen gewohnt ist.

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