Verflüssigungen - Wege und Umwege vom Sozialstaat zur Kulturgesellschaft
von: Adrienne Goehler
Campus Verlag, 2006
ISBN: 9783593401782
Sprache: Deutsch
277 Seiten, Download: 3028 KB
Format: EPUB, PDF, auch als Online-Lesen
Kapitel 1 Das Unbehagen an der Gegenwart (S. 23-24)
Der Zustand der Republik? Flach atmend und erschöpft, physisch und psychisch. Verhärtungen und Verkrustungen überall. Die Energien scheinen im Festhalten am vergehenden Bestehenden gebunden, in der künstlichen Ernährung einer Daseinsform, die zusammen mit dem Sozialstaat in einer Art Wachkoma liegt. Die Menschen haben fühl- und messbar Angst, sie halten das Geld auf ihren Bankkonten fest, so sie dort noch etwas festzuhalten haben. Zwischen 1993 und 2003 stieg das durchschnittliche Nettovermögen der privaten Haushalte um 26 Prozent, bei gleichzeitiger Zunahme der Armut und erheblicher Schwächung der Konjunktur.
Immer mehr Menschen wissen keine Antwort mehr auf die Frage, wie es weitergehen soll, weil sie keine Vorstellung davon haben, was sie ereilen könnte. Der Glaube, dass es schon jemand in Industrie- Parteienpolitik-Gewerkschaften richten werde, dass sie vor einem Hartz-IV-Schicksal (oder dem identischen Schicksal, das künftig nur ein anderes Label kriegen wird) bewahrt würden, schwindet zusehends. Wenn überhaupt, dann suchen Menschen nach individuellen Auswegen und (Überlebens-)Strategien, aber auch dafür gibt es zu wenig Widerhall aus der Politik, zu viele Hindernisse, zu viel Zurückweisung, zu viel Ignoranz. Gesellschaftliche Weiterentwicklung wird von den Einzelnen nicht als etwas erlebt, was sie beeinflussen können. Der überraschende Ausgang der Bundestagswahl mag wie ein Gegenargument wirken. Denn die Botschaft der WählerInnen war schlau, ernst und unübersehbar: Wir wollen das »Weiter-so« nicht, und wir wollen die andere Suppe auch nicht auslöffeln müssen. Das doppelte Nein lässt sich einerseits lesen als Vertrauensverlust in beide Richtungen, als Überdruss an der faden und lähmenden Schei nalternative zwischen »Mehr Staat« und »Mehr Markt«, andererseits auch als Aufforderung an die Politik, sich selbst und ihre althergebrachten Konstellationen und Gewissheiten zu befragen. Für einen kurzen, kostbaren Moment tat sich ein Fenster auf, geöffnet durch den »Eigensinn der WählerInnen« (Joschka Fischer), das den Blick auf einige andere europäische Staaten hätte freigeben können, die mit wechselnden Sachkoalitionen regieren. Die Politik hätte die Chance gehabt, 30 Tage in Klausur zu gehen und auf den komplizierten Auftrag der WählerInnen mit einem auf Erweiterung der Demokratie zielenden Vorschlag zu reagieren, der weniger die Parteienprogramme in den Mittelpunkt gestellt als den sichtlichen Unmut aufgenommen hätte. Stattdessen wurde Stillstand herbeikoaliert.
Dabei ist die Unruhe in allen Bevölkerungsschichten spürbar, auch dort, wo sich der Blick dieses Buchs etwas genauer hinwenden will: in die Felder der Wissenschaften und der Künste, die über ihre Erkenntnisinstrumente in der Lage sind, sich kritisch und verändernd mit Gesellschaft auseinander zu setzen. Verwoben mit der Absenkung der staatlichen Leistungen auf allen Ebenen auch dort die Fragen: Wie kann ich existieren im drohenden Weniger? Wo komme ich als Subjekt im Umbau der Gesellschaft vor, mit dem, was ich weiß und kann, gelernt und erfahren habe und zur Verfügung stellen könnte? Wer fragt mich? Man spürt nicht nur Angst, Sorge, Paralyse, man spürt auch Kränkung darüber, von der Politik nur als Problem, nicht aber als ein Teil der Lösung betrachtet zu werden. Die Menschen fühlen sich in ihren Emotionen nicht ernst genommen. Das überlässt die Politik den Massenmedien und (Partei-)Werbestrategen. Sie selbst setzt auf Verlautbarungen, Zahlen, Wiederholung. Durch die weitgehende Bereinigung der Botschaften von Emotionen löst sie bei den EmpfängerInnen gerade solche aus: Misstrauen, Verunsicherung, Ohnmacht, Angst. Die Publizistin Barbara Sichtermann diagnostiziert: »Wir haben also eine fast anarchische Situation. Die Macht ist entwertet, sie liegt auf der Straße, niemand will sie aufheben, sie stinkt. Zwar tun im Wahlkampf alle so, als wären sie bereit, der armen Macht den Gefallen zu tun und sich gnädig nach ihr zu bücken, aber man merkt ihren Tonfällen an, dass sie im Zweifelsfalle lieber kneifen würden.«