Depressionen: Erkennen und Behandeln

Depressionen: Erkennen und Behandeln

von: Rainer Tölle

C.H.Beck, 2000

ISBN: 9783406447396

Sprache: Deutsch

113 Seiten, Download: 470 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

geeignet für: Apple iPad, Android Tablet PC's Online-Lesen PC, MAC, Laptop


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Depressionen: Erkennen und Behandeln



                                         
                                            I. Trauer und Depression


1. Trauer

Trauer ist nicht dasselbe wie Depression. Aber Trauer und Depression grenzen aneinander. Insbesondere die krankhafte Trauerreaktion steht der reaktiven Depression nahe.Deshalb beginnt dieses Buch zunächst mit einem Kapitel über Trauer.

    Trauer ist seelischer Schmerz, der eintritt, wenn dem Menschen etwas verlorengeht, was ihm lieb und vertraut war, insbesondere wenn er einen nahen Angehörigen durch den Tod verliert.

    Wenn fachwissenschaftlich von Trauer die Rede ist, stellt sich sogleich die Frage: Ist es nicht taktlos, psychologisch oder gar psychopathologisch, also als Psychiater in diesen Intimbereich eindringen zu wollen? Zu antworten ist: Es gibt Situationen, in denen ein Mensch in seiner Trauer so leidet und sich so sehr verstrickt, daß therapeutische Hilfe notwendig wird. Und auf diesen Fall muß sich auch die wissenschaftliche Forschung einstellen.

    Trauer kann sich in heftigem Weinen und lautem Klagen äußern oder aber in Verstummen und Insichgekehrtsein bis zur Versteinerung des Gefühlslebens. Welchen Ausdruck die Trauer findet, ist nicht nur von der Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen, sondern auch von Stilbildungen in der Gesellschaft abhängig. In unserem Kulturkreis sind Trauerriten und Trauerverhalten erkennbar von der jüdisch-christlichen Tradition bestimmt. Dazu gehören auch konventionelle Zwänge, nämlich sich zusammenzunehmen und „vernünftig" zu sein, also Schmerz und Trauer nicht zu äußern. Das mag für manche nützlich sein. Oft aber wäre es für den Betroffenen besser, seinem Schmerz Ausdruck zu geben, auch in Form lauter Äußerung.

    Unmittelbar nach dem Verlusterlebnis können auch Überaktivität und Geschäftigkeit auftreten, häufiger ist ausgeprägte Passivität. Der Betroffene hat kein Interesse mehr an der Welt, kaum mehr an seinem nächsten Mitmenschen. Manche empfinden die Situation als unwirklich, so als stünden sie „neben sich". Sie erleben sich wie fremd oder wie unlebendig und leer. Es können körperliche Beschwerden hinzukommen: Erschöpfung, Kraftlosigkeit, Appetitverlust, Schlafstörung und weitere vegetative Regulationsstörungen, vor allem von seiten des Magens und Darms. Die körperlichen Bewegungen werden langsam und einförmig, das Gesicht spiegelt Schmerz und Trauer wider.

    Trauerreaktionen wurden eingehend von dem deutsch-amerikanischen Psychiater Erich Lindemann (1979) untersucht, der nach einer Brandkatastrophe viele Hinterbliebene gesprochen und behandelt hat. Hier zwei Beispiele:


    Eine 40jährige Frau verlor ihren Mann bei einer Brandkatastrophe. Zunächst war sie ganz verzweifelt, weinte bitterlich und wollte nicht mehr leben. Sie war so aus der Bahn geworfen, daß sie den Psychiater aufsuchte. Im therapeutischen Gespräch zeigte sich, daß die Erinnerungen an ihren Mann sie an nichts anderes denken ließen und daß sie Angst hatte, darüber verrückt zu werden. Sie hatte lebhafte visuelle Vorstellungen von seiner Anwesenheit, wie er morgens zur Arbeit gehe usw. Sie stellte sich lebhaft vor, wie es wäre, wenn er zurückkäme. Allmählich aber gelang es ihr, den Verlust zu akzeptieren, nachdem sie lange mit dem Psychiater über ihren Mann gesprochen hatte. Später begann sie, alte Aktivitäten wieder aufzugreifen, und sie plante die Rückkehr in ihren Beruf.


    Eine 45jährige Frau verlor ihren jüngsten Sohn, der 17jährig auf dem Motorrad seines Freundes verunglückte. Sie war bedrückt, ohne weinen zu können. Körperlich fühlte sie sich matt und kaum zur Hausarbeit in der Lage. Dabei wirkte sie gespannt und aggressiv. Sie litt unter Kopfschmerzen und Schlafstörungen. Jede Nacht sehe sie im Traum ihren Jungen vor sich stehen mit dem Sturzhelm unter dem Arm. Sie machte sich zum Vorwurf, daß sie in den eineinhalb Stunden, die der Junge nach dem Sturz noch lebte, nicht bei ihm gewesen sei. Immer habe sie das Gefühl, daß er doch zurückkommen werde. Als das Schützenfest nahte, putzte sie seine Uniform. Ganze Tage verbrachte sie in seinem Zimmer.

Kategorien

Service

Info/Kontakt