Deutsche Wirtschaftsgeschichte nach 1945
von: Michael von Prollius
Vandenhoeck & Ruprecht, 2006
ISBN: 9783825227852
Sprache: Deutsch
343 Seiten, Download: 3566 KB
Format: PDF, auch als Online-Lesen
4. »Wohlfahrtswirtschaft« und Wirtschaftskrisen (1973–2004) (S. 180-181)
4.1 Krisen- und Umbruchdekade (1973–1983)
Das Jahr 1973 markiert für die gesamte westliche Welt einen Einschnitt, es ist ein »annus horribilis« (Andreas Rödder) vorwiegend in ökonomischer Hinsicht. Der Zusammenbruch der Weltwährungsordnung, die Ölpreiskrise, die höchste Inflationsrate seit 1951, die schärfsten Stabilisierungsmaßnahmen und zugleich das Scheitern der Globalsteuerung, ja das Ende der Modernisierungsideologie selbst markieren diese tiefe Zäsur (zur Begründung Borchardt: 1990). Die Weltwirtschaftskrise vom Herbst 1973 steht am Beginn einer Krisen- und Umbruchdekade, die scheinbar grundlegend neue Herausforderungen nach sich zog. Ausmaße eines Kulturschocks nahm die wirtschaftspolitische Wende zudem durch die Erschütterung des verbreiteten Glaubens an einen ungebremsten linearen Fortschritt mit ewigem Wachstum an. Das Ende der fast ununterbrochenen wirtschaftlichen Aufschwungphase über ein Vierteljahrhundert hinweg kam dem Ende einer Epoche gleich. So wurde der Bericht an den Club of Rome mit dem weithin bekannten Titel »Grenzen des Wachstums« zur Gegenparole einer linearen Wirtschaftswachstumsgesellschaft und rückte die Probleme einer zunehmenden Vernutzung der Erde und ihrer Ressourcen in den Vordergrund.
Die Autofahrverbote mit den leeren Autobahnen an Sonntagen sind ein Symbol grundlegend gewandelter Verhältnisse. Zweifellos waren die Verbote politisch ein großer Erfolg und gängige Interpretationen lauteten, dass die Bevölkerung zu solidarischem Handeln in der Lage sei. Die (antiliberale) ökologische Gegenbewegung kann als Teil eines allgemeinen soziokulturellen Wandels begriffen werden, der sich unter anderem in einer zunehmenden Politisierung der Gesellschaft bei gleichzeitiger Abkehr von ordnungsorientierter Politik und bürgerlicher Moral manifestierte.
Die wirtschaftspolitischen Probleme der siebziger Jahre bestehen bis heute fort. Die Arbeitslosigkeit hatte erstmals einen Sockel ausgebildet, dem weitere folgten. Die Probleme der sozialen Sicherungssysteme haben sich verschärft, die Umweltprobleme und die Abhängigkeit der Weltwirtschaft vom Öl bestehen fort. Verbrauchs-und Verteilungsforderungen beherrschen die Politik und das Denken vieler Menschen, gleichzeitig haben ordnungspolitisches Denken und das Eintreten für Marktwirtschaft und Wettbewerb weiter abgenommen.
4.1.1 Die erste Ölpreiskrise
Der überraschende Angriff der arabischen Staaten (Ägypten und Syrien) auf Israel im Oktober 1973, der als Jom-Kippur-Krieg oder 4. Israelisch-Arabischer Krieg in die Geschichte eingegangen ist, bildet den Auftakt zur ersten Ölpreiskrise der Weltwirtschaft. Der militärischen Unterstützung Israels durch die USA folgte die Reaktion der OPEC (Organization of Petroleum Exporting Countries) auf dem Fuße. Das Kartell der ölexportierenden Länder drosselte seine Produktionsmenge um 10, später um 25 Prozent, diktierte Lieferbeschränkungen und verhängte einen Boykott für Öllieferungen an die USA, zeitweise auch für die Niederlande. Verwirrung und Sorge machten sich schlagartig in den Industrieländern breit: Befürchtungen über mangelnde Produktionsmöglichkeiten bei der Auto- und petrochemischen Industrie, Einschränkungen beim Verkehr und bei der Stromerzeugung, Sorgen um die Handels- und Zahlungsbilanzen und die Möglichkeit für Defizitländer, weiterhin Öl importieren und bezahlen zu können, Spekulationen über die Verwendung der als Petrodollars bezeichneten Gewinne durch die arabischen Länder. Mit dem Öl stiegen die Preise für Rohstoffe.