Gesundheitspolitik - Eine systematische Einführung

Gesundheitspolitik - Eine systematische Einführung

von: Rolf Rosenbrock,Thomas Gerlinger

Hogrefe AG, 2006

ISBN: 9783456942254

Sprache: Deutsch

384 Seiten, Download: 3106 KB

 
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Gesundheitspolitik - Eine systematische Einführung



2 Gesundheit und Gesundheitspolitik in Deutschland – ein Problemaufriss (S. 27-28)

2.1 Entwicklungslinien der Gesundheitspolitik
Gesundheitspolitik, so ist eingangs festgestellt worden, umfasst sowohl den Bereich der gesellschaftlichen Krankheitsvermeidung als auch den der gesellschaftlichen Krankheitsbewältigung.

Beide Felder sind nicht nur ihrer Entstehungsgeschichte nach – in aller Regel – institutionell getrennt, sie unterliegen in ihrer Entwicklung auch durchaus unterschiedlichen Einflüssen. So sind Strategien der Krankheitsvermeidung zum Beispiel eng verknüpft mit

- dem Wandel der Gesundheitsgefährdungen
- ihrer Bewertung durch die Öffentlichkeit beziehungsweise die beteiligten Akteure
- der Thematisierung gesundheitlicher Interessen durch soziale Bewegungen und den interessengeleiteten Konflikten im jeweiligen Präventionsfeld, etwa denen zwischen Kapital und Arbeit im Bereich des Gesundheitsschutzes in der Arbeitswelt.

Des Weiteren sind für die Entwicklungsrichtung von Präventionspolitik auch die Konjunkturen der wissenschaftlichen Deutung von Krankheitsursachen (Ätiologie), insbesondere die Entwicklungen im Bereich der Medizin, von großem Einfluss. Zurzeit erleben wir im Zeichen des «Human Genome Project» zum Beispiel wieder eine deutliche Aufwertung genetischer Krankheitsursachen und entsprechender Präventionsstrategien (z. B. Labisch 2001), die den Stellenwert gesellschaftlicher Interventionen zu relativieren scheinen.

Im Hinblick auf Umfang und Formen der Absicherung des Krankheitsrisikos und der Krankheitsbewältigung sind andere Einflüsse von Bedeutung. Die Entwicklung dieses Bereichs ist zum einen eng verknüpft mit der Entwicklung der sozialen Sicherungssysteme in den jeweiligen Nationalstaaten (z. B. Alber/Bernardi-Schenkluhn 1992; Raffel 1997). Finanzierungsbedingungen, Leistungsumfang und Zugangsregeln sind Ausdruck der sich dort üblicherweise in Konflikten herstellenden Strukturen und Traditionen sozialstaatlicher Sicherung und ihrer sich im Zeitverlauf wandelnden Problemlagen. So ist es kein Zufall, dass mit der Mitte der 1970er-Jahre einsetzenden Finanzierungskrise des Sozialstaats neben der Renten- und der Arbeitslosenversicherung auch die GKV Objekt staatlicher Ausgabenbegrenzungspolitik geworden ist – mit entsprechenden Auswirkungen auf die Leistungserbringung.

Zum anderen geht es in der Krankenversicherung anders als zum Beispiel in der Renten- oder Arbeitslosenversicherung nicht allein um eine monetäre Umverteilung, sondern zugleich auch darum, die Erbringung persönlicher Dienstleistungen zu steuern. Damit sind eine Vielzahl professioneller und finanzieller Interessen institutionalisiert, die gleichsam ihr Eigenleben führen und selbst in hohem Maße Einfluss auf Art, Umfang und Strukturen der Leistungserbringung in der gesundheitlichen Versorgung nehmen. Entscheidungen über Strategien der Krankheitsvermeidung und der Krankheitsbewältigung fallen also zumeist in unterschiedlichen Arenen mit je eigenen Problemlagen und -deutungen sowie Akteurs- und Interessenkonstellationen.

Finanzierung der Krankenbehandlung und Versorgungsstrukturen eines Gesundheitswesens einerseits und die Ausrichtung und Bedeutung der Präventionspolitik andererseits sind somit oftmals nur lose miteinander verbunden. Daher finden wir auch im internationalen Vergleich höchst unterschiedliche Kombinationen von Versorgungs- und Präventionsstrukturen. Dabei sind die Entstehung und Entwicklung der Sozial- und Gesundheitspolitik nicht das Ergebnis einheitlicher gesamtgesellschaftlich durchgesetzter Strategien und folgen auch keiner evolutionären Modernisierungslogik. Vielmehr sind sie das Resultat konfliktreicher und interessengeleiteter Auseinandersetzungen zwischen Koalitionen beziehungsweise Bündnissen verschiedener Klassen und Schichten (Naschold 1982).

2.1.1 Gesundheitspolitik als Präventionspolitik

Der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit brachte eine Säkularisierung in der Deutung von Gesundheit und Krankheit mit sich, die sich auch in einer fortschreitenden Rationalisierung von Präventionskonzepten niederschlug (Labisch 1992). Im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert stand die «Medizinische Polizey» für die überwiegend auf Anordnung und Zwang beruhende Form öffentlicher Aktivitäten zur Gesundheitssicherung (Frevert 1984), die heute auch als «Old Public Health» bezeichnet wird. Gesundheitssicherung war zu einer öffentlichen Angelegenheit geworden, die sich vor allem auf die Bekämpfung der bis in das 20. Jahrhundert hinein bedeutendsten Todesursachen, der Infektionskrankheiten, richtete.

Die Interpretation der Ursachen von Infektionskrankheiten und die darauf basierende Ausrichtung von Präventionsstrategien unterlagen einem steten Wandel. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts stand, insbesondere bei Rudolf Virchow, die Überzeugung im Mittelpunkt, dass die Krankheitsentstehung vor allem von den sozialen Lebensbedingungen beeinflusst wird (Deppe/Regus 1975). Zur gleichen Zeit verbreitete sich auf Grund von Ergebnissen der experimentellen Hygiene die Vorstellung, dass Krankheitsursachen in der unbelebten indirekten (Boden, Grundwasser) und der direkten (Nahrungsmittel, Kleidung, Wohnung) menschlichen Umwelt liegen (von Pettenkofer). Die daraus abgeleitete Strategie der Konditional- oder Umgebungshygiene ging, obwohl von unzutreffenden Annahmen ausgehend, systematisch und mit nachweisbaren Erfolgen gegen die Ausbreitung von Infektionskrankheiten vor. Zu den wichtigsten Instrumenten gehörte die Verbesserung der hygienischen Bedingungen in den Städten, die Sicherstellung «gesunden» Wohnraums, aber auch eine verbesserte persönliche Hygiene und vor allem die ausreichende Ernährung der Bevölkerung. Diese Maßnahmen haben entscheidend zum Rückgang der Sterblichkeit an Infektionskrankheiten beigetragen (Spree 1981; McKeown 1982).

Die Entdeckung mikrobiologischer Erreger durch Robert Koch markierte gleichsam eine «naturwissenschaftliche Wende» bei der Bekämpfung von Infektionskrankheiten. Nun richtete sich die Prävention auf die Eradikation der Bakterien durch die Immunisierung (Impfung), die spezifische Therapie oder auch die Isolierung der Keimträger (Auslösungshygiene). Die Verbreitung eines Erregers galt nunmehr als die notwendige Krankheitsursache, die es zu unterbinden galt (Schlich 1996).

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