Lehrbuch der Klinischen Psychologie und Psychotherapie - Modelle psychischer Störungen

Lehrbuch der Klinischen Psychologie und Psychotherapie - Modelle psychischer Störungen

von: Hans Reinecker

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2003

ISBN: 9783840917127

Sprache: Deutsch

602 Seiten, Download: 14274 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Lehrbuch der Klinischen Psychologie und Psychotherapie - Modelle psychischer Störungen



"1 Definition und Stellenwert der Klassifikation (S. 4-5)

Jede Wissenschaft bemüht sich, die Phänomene ihres Untersuchungsbereiches zu benennen und sie nach bestimmten Gesichtspunkten zu klassifizieren, um die Phänomene einer systematischen Erforschung zugänglich und die Beobachtungsergebnisse mitteilbar und vergleichbar zu machen. Die dabei benutzten Fachtermini, sprachliche Kürzel für mehr oder minder komplexe Sachverhalte, sollen möglichst gut definiert sein (Möller, 1976), um die wissenschaftliche Kommunikation zu garantieren.

Unter Klassifikation versteht man zweierlei:

Primär: Die Einteilung einer Mannigfaltigkeit (Menge von Merkmalen, Population von Fällen) in ein nach Klassen* gegliedertes System (Systematik).
Sekundär: Die Zuordnung einzelner Merkmale bzw. Fälle zu Klassen* eines solchen Systems (Diagnostik).

Die Klassifikation psychischer Störungen ist unter verschiedenen Gesichtspunkten kritisiert worden. Der idiografische Ansatz, der einer individualisierenden Betrachtung des Patienten in der Einmaligkeit seiner Entwicklung, seiner Persönlichkeit und der für ihn pathogenen Situation das Hauptinteresse widmet (Menninger, 1963; Meyer, 1907), stellt die Möglichkeit einer der Individualität des Patienten gerecht werdenden klassifikatorischen Zuordnung prinzipiell in Frage.

Dem ist entgegenzuhalten, dass ein solcher Ansatz keineswegs den der klassifikatorischen Zuordnung des Einzelfalles in eine Klasse von Fällen mit ähnlichen Charakteristika und Gesetzmäßigkeiten ausschließt, sondern ihn nur sinnvoll ergänzt und so den Einzelfall spezifizierten ärztlichen Interventionsmöglichkeiten zuführt (v. Zerssen, 1973a, 1973b). Radikaler noch als von Anhängern des idiografischen Ansatzes wird die Klassifikation psychischer Störungen von Autoren, die zur so genannten „Antipsychiatrie“ gezählt werden, kritisiert. Sie schlagen vor, jegliche Klassifikation psychischer Störungen als den Patienten schädigende „Etikettierung“ zu unterlassen (Foudraine, 1973; Laing, 1972; Scheff, 1973; Szasz, 1973), eine Position, die zumindest in ihrer radikalen Ausformulierung, dass die Lebensschwierigkeiten psychisch Kranker, z. B. Schizophrener, lediglich aus der diagnostischen Etikettierung ihrer Verhaltensstörungen und aus der dadurch beeinflussten Einstellung der Mitmenschen resultieren, unhaltbar scheint (Bean, 1979; v. Praag, 1978; Schipkowensky, 1974; v. Zerssen, 1976).

Solchen, mehr oder weniger grundsätzlich kritischen Einstellungen gegenüber einer Klassifikation psychischer Störungen ist ebenso grundsätzlich entgegenzuhalten, dass erst die Klassifikation psychischer Störungen die Grundlagen schafft für die Erforschung der multifaktoriellen Entstehungszusammenhänge solcher Störungen und dass mit der Erkenntnis dieser konditionalen Zusammenhänge Voraussetzungen für eine rationale und empirisch begründete Therapie dieser Störungen geschaffen werden. Die Klassifikation psychischer Störungen kommt somit durchaus den Menschen zugute.

Das lässt sich an einfachen Beispielen zeigen. Gäbe es z. B. nicht die Klassifikation in endogene und exogene Psychosen (körperlich begründbare Psychosen), würde man sicherlich nicht hinsichtlich der Therapie dieser psychischen Krankheiten differenzieren, würde also exogene Psychosen wie endogene Psychosen möglicherweise nur mit Neuroleptika und ergänzenden psychosozialen Maßnahmen behandeln, anstatt die körperlichen Ursachen der exogenen Psychosen zu bekämpfen. In einemsolchen Fall könnte der Verzicht auf eine adäquate Systematik und Diagnostik letale Folgen für den Patienten haben."

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