Die Hauptbücherei Wien - The Main City Library Vienna
von: Alfred Pfoser, Ernst Mayr, Matthias Boeckl, Roderick O'Donovan
Springer-Verlag, 2005
ISBN: 9783211258187
Sprache: Deutsch
96 Seiten, Download: 12499 KB
Format: PDF, auch als Online-Lesen
EIN FLAGGSCHIFF GROSS IN FAHRT (S. 5)
ALFRED PFOSER
Es ist ein markantes Gebäude mit Schiffscharakter, mit seiner riesigen Freitreppe weithin am Gürtel sichtbar: die neue Hauptbücherei der Büchereien Wien. Am 7. April 2003 wurde sie feierlich eröffnet. Wie der Augenschein täglich beweist, haben die Wienerinnen und Wiener das Haus fest in Besitz genommen. 3000 Personen kommen durchschnittlich an jedem Öffnungstag. Zirka 10.000 Besucher haben sich durch das Haus führen lassen. Und das Interesse lässt nicht nach, sondern steigt noch leicht an, zu den bisher 38.000 Neueinschreibungen gesellen sich täglich zwischen 50 bis 150 Leser dazu. Die Hauptbücherei bedient offensichtlich ein vorhandenes, bisher in Österreich bildungspolitisch unterschätztes Bedürfnis: den Wunsch nach einer großen, leicht zugänglichen Allgemeinbibliothek mit großem Freihandbestand, bequemen, kostengünstigen Entlehnmöglichkeiten, luxuriöser Arbeitsatmosphäre und viel Multimedia. Ein feines Veranstaltungs-, Animations- und Schulungsprogramm und kleinere Ausstellungen machen die Hauptbücherei vollends zum Kultur- und Bildungszentrum, zu einem Lern-Ort ersten Ranges, in dem persönliche und berufliche Weiterbildung zusammenfließen. Auch europaweit findet sie in Fachkreisen Anerkennung und Interesse. Im Januar 2004 errang sie in Leuven/Belgien den „Landmark Libraries Award".
Dabei ist sie eine Provokation für alle Bibliotheksplaner. Die Hauptbücherei am Gürtel kann definiert werden als „paradoxe Intervention" im Öffentlichen Raum. Bibliotheken werden herkömmlich gern in Parks oder in verkehrsarmen Straßen und Plätzen gebaut, haben ein entsprechendes Entrée in Vorform eines kleinen Vorplatzes, sind in der Innenstadt zentral platziert. Eine Hauptbücherei im Museumsquartier wäre eine solche Bibliothek gewesen. Am Gürtel ist dies ganz anders: Dort sind Autos, Straßenbahnen und die U-Bahn dominierend. Dort herrscht die wilde Dynamik der Großstadt, dort fordern Rotlichtmilieu und Drogenszene heraus, dort gibt es den Kontrapunkt zum kleinstädtischen Flair der Innenstadt. Das ist genau der Ort, vor dem sich eine Bibliothek herkömmlich fürchtet, wo sie aber zugleich zu ihrer uralten Mission finden kann: der Zivilisierung des Menschen, die Vermittlung von Kultur und Bildung inmitten des Unbehagens der Moderne. Die Öffentliche Bibliothek, oft visuell versteckt, wird am Wiener Gürtel monumental und spektakulär sichtbar. Ein unschätzbares Plus in der Ökonomie der Aufmerksamkeit.