Alkohol und Alkoholfolgekrankheiten - Grundlagen - Diagnostik - Therapie

Alkohol und Alkoholfolgekrankheiten - Grundlagen - Diagnostik - Therapie

von: Alexander Schneider, Stephan Teyssen

Springer-Verlag, 2005

ISBN: 9783540264460

Sprache: Deutsch

614 Seiten, Download: 12222 KB

 
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Alkohol und Alkoholfolgekrankheiten - Grundlagen - Diagnostik - Therapie



9 Experimentelle Modelle der Alkoholsucht (S. 99)

9.1 Alkoholforschung und Tierversuche
9.2 Alkoholaufnahme beim Labortier
9.3 Alkohol-Präferenz-Modelle
9.4 Alkohol-Deprivations-Modell – ein Tiermodell zur Messung von Rückfallverhalten
9.5 Reinstatement-Modell – messbares Drogensuchverhalten bzw. Craving
9.6 »Point of no return« – die Entwicklung der Sucht
Zusammenfassung
Literatur

9.1 Alkoholforschung und Tierversuche

Trotz intensiver Forschung ist es bis heute nicht gelungen, die zellulären und molekularbiologischen Mechanismen der Suchtentstehung vollkommen zu entschlüsseln. Eine unverzichtbare Grundlage zum Verständnis dieser Erkrankung des Gehirns sind Tierversuche in der präklinische Forschung. Tiermodelle ermöglichen gerade im Bereich der Suchtforschung Studien, welche aus ethischen Gründen am Menschen nicht durchführbar wären. Die Verabreichung von Substanzen mit Suchtpotential ist ebenso wenig zu verantworten wie mögliche Konsequenzen einer solchen Behandlung. Neben ethischen Gesichtspunkten sind es jedoch v. a. auch wissenschaftliche Argumente für den Tierversuch.

Wenn auch heutzutage Zell- und Gewebekulturen für biochemische, molekularbiologische oder pharmakologische Studien wertvolle Ergebnisse liefern, so lassen sie sich nicht mit bestimmten Verhaltensweisen korrelieren. Eben diese Korrelation der entsprechenden Verhaltensweisen mit den unterlie genden biochemischen Prozessen vermitteln uns heute dringend notwendige Einsichten in Suchtentstehung und -mechanismen. Insbesondere bei so komplexen Störungen wie Suchterkrankungen bieten Tiermodelle eine »Vereinfachung « von Verhaltensmustern bei gleichzeitiger Parallelität zur menschlichen Situation und einem hohen Grad an experimenteller Kontrolle.

Die Tiere der Wahl für verhaltenspharmakologische Experimente sind kleine Labornager wie Ratten und Mäuse. Mehrere Gründe machen diese Tiere zu geeig neten Forschungsobjekten: ihre hohe Reproduktionsrate und vergleichsweise einfache Haltung oder die Ähnlichkeit grundlegender biologischer Mechanismen im Vergleich zum Menschen. In den letzten Jahren konnten neue Tiermodelle entwickelt werden, die verschiedene Aspekte einer Drogensucht abbilden.

! Kontrollverlust, Toleranzentwicklung, Craving oder Rückfallverhalten – nach DSM-IV und ICD-10 charakteristische Merkmale einer Abhängigkeit – lassen sich heutzutage relativ verlässlich im Tierversuch darstellen.

9.2 Alkoholaufnahme beim Labortier

Betrachtet man Tiere in freier Wildbahn, findet man Alkoholaufnahme als ein durchaus natürliches Phänomen. Vor allem frugivore (früchteverzehrende) Spezies, darunter viele Nager, konsumieren regelmäßig vergärende und überreife Früchte. Deren Alkoholgehalt ist zwar mit bis zu 0,6% vergleichsweise gering, bemerkenswert ist jedoch die allgegenwärtige Verfügbarkeit von Ethanol in der Natur. Inwieweit der Alkoholgehalt selbst maßgeblich für den Konsum solcher Früchte ist und nicht etwa die geschmackliche Komponente aufgrund des enthaltenen Fruchtzuckers, ist derzeit noch unbekannt. Unabhängig davon aber kann freiwilliger Alkoholkonsum somit als dem natürlichen Verhaltensrepertoire zugehörig klassifiziert werden. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist die Beobachtung von Frank Wiens im Urwald von Malaysia.

Er hat kürzlich festgestellt, dass die Bertrampalme Früchte mit über 5% Ethanolgehalt trägt und von vielen Kleinnagern nachts immer wieder besucht wird. In einer Art Co-Abhängigkeit wird so einerseits Nahrung für die Kleinnager bereitgestellt, anderseits sorgen die Tiere für die Verbreitung der Pflanze, dabei ist das Bindeglied der Alkohol. Diese und andere Beobachtungen scheinen Ratten und Mäuse zu idealen Versuchstieren zu machen, um Wirkung und Einfluss von Ethanol auf Verhalten und Physiologie zu erforschen. Die Tatsache, dass Nagetiere auch in der Laborumgebung freiwillig Alkohol und andere Drogen zu sich nehmen, macht sich die Forschung bereits seit Jahrzehnten zu Nutze. Durch die Beobachtung des Trinkverhaltens der Tiere erhoffen sich Forscher mehr Verständnis über die Entwicklung (mal)adaptiver Veränderungen des zentralen Nervensystems. Diese wiederum stehen in enger Verbindung mit Toleranzentwicklung und physischer Abhängigkeit und sind Folge eines chronischen Drogenkonsums.

Nur wenige Hinweise deuten allerdings darauf, dass Versuchstiere Alkohol in niedriger Konzentration aufgrund pharmakologischer Effekte zu sich nehmen und nicht etwa seines süßlichen Geschmacks wegen. Übereinstimmend wurde gefunden, dass Ethanollösungen von bis zu 6% (in Wasser gelöst) einen süßlichen Geschmack aufweisen, der von den Tieren gegenüber reinem Wasser bevorzugt wird. Ein Alkoholgehalt von über 6% hingegen hat mit steigender Tendenz aversiven Charakter, der Geschmack geht hin zum »Scharfen«. Dennoch sind Ratten abhängig von den jeweiligen Versuchsbedingungen bereit, Alkohollösungen mit einer Konzentration von bis zu 40% aufzunehmen.

Als Schlüsselkriterium einer Abhängigkeit muss auch im Tiermodell der Kontrollverlust nachgewiesen werden, sollen tierexperimentelle Forschungsergebnisse auch auf den Menschen übertragbar sein. Wie aber definiert sich dieser im Tiermodell? Alkoholpräferenz alleine stellt sicherlich kein ausreichendes Kriterium zu seiner Bewertung dar, sie ist vielmehr Charakteristikum eines kontrollierten Konsums (s. Kap. 9.3). Demzufolge dürfen auf Alkoholpräferenz selektierte Zuchtlinien nur äußerst kritisch als valide Modelle für Alkoholismus betrachtet werden – zumindest solange ein Kontrollverlust nicht eindeutig nachgewiesen werden kann. Dieser zentrale Aspekt süchtigen Verhaltens ist zwingende Voraussetzung für die Konstatierung einer echten Drogenabhängigkeit.

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