Der Spracherwerb des Kindes - Verlauf und Störungen

Der Spracherwerb des Kindes - Verlauf und Störungen

von: Jürgen Dittmann

C.H.Beck, 2002

ISBN: 9783406480003

Sprache: Deutsch

129 Seiten, Download: 653 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Der Spracherwerb des Kindes - Verlauf und Störungen



                              
                                                2.3 Der ‹Input›



Das Kind muss das Phonemsystem und die Wortformen seiner Muttersprache lernen, d. h., es muss der Sprache seiner Umgebung die notwendigen Informationen entnehmen können – es braucht ‹Input›. Dabei ist Imitation die entscheidende Quelle der Wortformentwicklung – dass im Deutschen «geben» mit geben und im Englischen mit give bezeichnet wird, kann das Kind nicht anders erschließen. Damit dieser Übertragungsprozess gelingt, ist das Kind mit einem hervorragenden ‹phonologischen Arbeitsgedächtnis› ausgestattet (Dittmann/Schmidt 1998). Es erlaubt ihm, neue Wortformen effizient zu verarbeiten und sie, in der Regel schon nach wenigen Wiederholungen, dauerhaft in sein ‹mentales Lexikon› zu überführen. Doch erwirbt jedes Kind darüber hinaus so viel Wissen über das Lexikon seiner Sprache, dass es einerseits neue Wörter bilden kann, die andere verstehen, und andererseits Wortneubildungen verstehen kann, die es hört (z. B. in der Sprache der Werbung).

Das Kind erwirbt eine Art «lexikalischen Werkzeugkasten». Dieses Wissen impliziert die Fähigkeit, zu entscheiden, ob eine Lautform ein mögliches Wort der Muttersprache darstellt oder nicht. Englische Sprecherinnen haben, mit einem Beispiel von Chomsky, die Formen strid und bnid noch nie gehört, können aber mit Sicherheit entscheiden, dass bnid kein mögliches Wort des Englischen ist. Deutsche Sprecher kommen zu demselben Schluss, arabische hingegen urteilen gerade umgekehrt. Solche Urteile übersteigen logischer- weise die Erfahrung, mithin die reine Imitation, denn die Sprecherinnen können die Formen ja noch nicht gehört haben. Neben der Imitation des Input haben wir es also auch auf dem Gebiet des Erwerbs der Wortformen mit Regelbildungen zu tun. Dass der Erwerb der Wortbedeutungen durchweg ein komplexer Prozess ist, der vom Kind aktive Beteiligung erfordert, werde ich in Kap. 3.1 ausführlich darstellen.

Für den Erwerb des Wortschatzes ist also der Input von ausschlaggebender Bedeutung. Schon pränatal bekommt das Kind sprachlichen Input (vgl. oben, Kap. 2.1), und das bleibt im Normalfall so: In der Umgebung des Kindes reden Erwachsene miteinander. Von besonderem Interesse aber ist die speziell «an das Kind gerichtete Sprache» (KGS; Szagun 1996). KGS tritt in drei aufeinander folgenden Erscheinungsformen auf, nämlich als ‹Ammensprache›, ‹stützende Sprache› und ‹lehrende Sprache› (Grimm 1998).

Ich gebe im Folgenden eine kurze Charakterisierung der Ammensprache und der stützenden Sprache, die für die Wortschatzentwicklung des Kindes von besonderem Interesse sind. Die lehrende Sprache wird uns dann im Zusammenhang mit der Grammatikentwicklung beschäftigen (vgl. unten, Kap. 5).

Ammensprache wird Säuglingen im ersten Lebensjahr gegenüber eingesetzt und zeichnet sich in der Regel durch hohe Tonlage, deutliches Sprechen, übertriebene Satzmelodie, Pausen zwischen den einzelnen Phrasen, Betonung besonders wichtiger Wörter, Wiederholungen und Vermeidung komplizierter Sätze aus. Man kann beobachten, dass dieses Register auch gegenüber Ausländern, geistig Behinderten, alten Menschen und (kleineren) Tieren angewendet wird, u.U. mit gewissen Modifikationen, wie dem Wegfall der hohen Stimmlage, wenn die Angesprochenen selbst erwachsen sind. In der Kommunikation mit Säuglingen scheint es auch kulturelle Unterschiede zu geben, so ist offenbar das Merkmal ‹hohe Tonlage› nicht obligatorisch.

Es gibt zudem Gesellschaften, in denen Erwachsene Säuglinge weniger in Formen dialogischer Kommunikation verwickeln, als das in unserer Kultur üblich ist. Nach Berichten der Anthropologin Bambi Schieffelin scheinen die Kaluli, ein steinzeitlich lebender Stamm in Neuguinea, an Säuglinge zwischen 0;6 und 1;0 eher einseitige Äußerungen, wie Aufforderungen und rhetorische Fragen, zu richten. Es ist also falsch, wenn immer wieder in der Literatur behauptet wird, die Kaluli würden mit ihren Säuglingen und Kleinkindern gar nicht sprechen, richtig ist aber, dass die Kaluli kein Register von der Art unserer Ammensprache verwenden.

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