Der Chronist der Winde - Roman

Der Chronist der Winde - Roman

von: Henning Mankell

Paul Zsolnay Verlag, 2013

ISBN: 9783552056800

Sprache: Deutsch

272 Seiten, Download: 1223 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Der Chronist der Winde - Roman



José Antonio Maria Vaz


Auf einem Hausdach aus sonnengebranntem, rötlichem Lehm stehe ich, José Antonio Maria Vaz, in einer schwülen, feuchten Nacht und warte auf den Untergang der Erde. Ich bin schmutzig und fiebrig, meine Kleider hängen in Fetzen, als wären sie auf wilder Flucht vor meinem dürren Leib. In den Taschen habe ich Mehl, und das ist für mich kostbarer als Gold. Denn vor einem Jahr stellte ich noch etwas dar, ich war Bäcker, im Gegensatz zu heute, da ich nichts bin, ein Bettler, der tagsüber rastlos unter der sengenden Sonne umherstreift und die endlosen Nächte auf einem verlassenen Hausdach verbringt. Aber auch Bettler haben Zeichen, die ihnen eine Identität verleihen, sie von allen anderen unterscheiden, die ihre Hände an den Straßenecken feilbieten, als wollten sie sie weggeben oder ihre Finger verkaufen, einen um den andern. José Antonio Maria Vaz ist der zerlumpte Kerl, der bekannt wurde als Chronist der Winde. Tag und Nacht, ununterbrochen, bewegen sich meine Lippen, als würde ich eine Geschichte erzählen, die niemand je anzuhören bereit war. Es ist, als hätte ich schließlich akzeptiert, daß der Monsun, der vom Meer herantreibt, mein einziger Zuhörer ist, immer aufmerksam, geduldig wie ein alter Priester darauf wartend, daß das Bekenntnis schließlich zu einem Ende kommt.

In den Nächten nehme ich Zuflucht zu diesem verlassenen Dach, da ich meine, dort Überblick und Raum zu gewinnen. Die Sternbilder sind stumm, sie applaudieren mir nicht, aber ihre Augen funkeln, und ich habe das Gefühl, ich könnte direkt in das Ohr der Ewigkeit sprechen. Und wenn ich den Kopf neige, sehe ich, wie die Stadt sich ausbreitet, die Nachtstadt, wo unruhige Feuer flackern und tanzen, unsichtbare Hunde lachen, und ich staune über all die Menschen, die da schlafen, atmen und träumen und lieben, während ich auf meinem Dach stehe und von einem Menschen spreche, den es nicht mehr gibt.

 

Ich, José Antonio Maria Vaz, bin auch ein Teil dieser Stadt, die sich an den Steilhängen zur breiten Flußmündung hinab festklammert. Die Häuser klettern wie Affen an den Hängen empor, und mit jedem Tag scheinen sich die Menschen, die da wohnen, zu vermehren. Sie kommen aus dem unbekannten Inland, aus der Savanne und den fernen, abgestorbenen Wäldern zur Küste hinabgewandert, an der die Stadt liegt. Dort lassen sie sich nieder und bemerken scheinbar nicht all die feindseligen Blicke, die ihnen begegnen. Niemand kann mit Sicherheit sagen, wovon sie leben oder wo sie Unterschlupf finden. Sie werden von der Stadt verschluckt, werden ein Teil von ihr. Und jeden Tag kommen neue Fremde, alle mit ihren Bündeln und Körben, die hochgewachsenen schwarzen Frauen mit riesigen Stoffballen auf ihren majestätischen Köpfen, wie Reihen von kleinen schwarzen Punkten vor dem Horizont dahinwandernd. Mehr und mehr Kinder werden geboren, neue Häuser klettern die Hänge empor, um weggespült zu werden, wenn die Wolken schwarz sind und Orkane wie mörderische Banditen wüten. So geht es nun schon seit Menschengedenken, und viele Leute liegen nachts wach und grübeln, wie das wohl enden wird.

Wann wird die Stadt die Abhänge hinabstürzen und vom Meer verschlungen werden?

Wann wird das Gewicht all dieser Menschen zu schwer?

Wann wird die Erde untergehen?

 

Einst habe auch ich, José Antonio Maria Vaz, nachts grübelnd wach gelegen.

Aber jetzt nicht mehr. Nicht mehr, seit ich Nelio begegnet bin und ihn aufs Dach getragen habe und ihn sterben sah.

Die Unruhe, die mich früher manchmal überkam, ist jetzt vorbei. Besser gesagt, ich habe begriffen, daß es einen entscheidenden Unterschied macht, ob man Angst hat oder beunruhigt ist.

Auch das hat Nelio mir erklärt.

– Wenn man Angst hat, ist das, als würde man an einem unstillbaren Hunger leiden, sagte er. Ist man dagegen beunruhigt, leistet man der Unruhe Widerstand.

Ich erinnere mich an seine Worte, und heute weiß ich, daß er recht hatte. Mitunter stehe ich hier und schaue hinaus auf die nächtliche Stadt, die unruhig flackernden Feuer, und ich erinnere mich an alles, was er in den neun Nächten gesagt hat, die ich bei ihm war und ihn sterben sah.

Aber auch das Dach ist ein lebendiger Teil der Geschichte. Es ist, als befände ich mich auf dem Meeresgrund, ich bin gesunken und kann nicht tiefer kommen. Ich stehe auf dem Grund meiner eigenen Geschichte, hier, auf diesem Dach, hat alles angefangen, und hier hat es geendet.

Manchmal stelle ich mir genau das als meine Aufgabe vor: daß ich für immer auf dem Boden dieses Dachs herumwandere und meine Worte an die Sterne richte. Genau das ist meine Aufgabe, für immer.

Dies ist meine merkwürdige Geschichte, wie mir scheint, unmöglich zu vergessen.

 

Es war an jenem Abend, gegen Ende November, vor einem Jahr, als Vollmond war und der Himmel nach heftigen Regenfällen aufgeklart hatte, als ich Nelio auf die schmutzige Matratze legte, wo er neun Tage später, in der ersten Morgendämmerung, sterben sollte. Da hatte er bereits viel Blut verloren, der Verband, notdürftig hergestellt aus Stoffetzen, die ich aus meinen eigenen zerschlissenen Kleidern riß, half nicht viel. Lange vor mir wußte er, daß er bald nicht mehr dasein würde.

Damals hat auch alles von vorn angefangen, als wäre eine neue, besondere Zeitrechnung plötzlich in Kraft getreten. Das weiß ich noch ganz genau, obwohl seit diesem Abend über ein Jahr vergangen und viel passiert ist in meinem Leben.

 

Ich erinnere mich an den Mond am dunklen Himmel.

Ich erinnere mich an ihn als Widerschein von Nelios bleichem Gesicht, auf dem die salzigen Schweißtropfen glitzerten, während das Leben langsam, fast vorsichtig, als gelte es, einen Schlafenden nicht zu wecken, seinen Körper verließ.

 

An diesem frühen Morgen, nach der neunten Nacht, als Nelio starb, ist etwas Wichtiges zu Ende gegangen. Es fällt mir schwer zu erklären, was ich meine. Aber mitunter fühlt es sich in meinem Leben so an, als wäre ich von einer großen Leere umgeben. Als befände ich mich in einem riesigen Raum aus unsichtbarem Gewebe, aus dem ich mich nicht befreien kann.

So habe ich es an dem Morgen empfunden, als Nelio im Sterben lag, von allen verlassen, mit mir als einzigem Zeugen.

 

Später, als alles vorbei war, tat ich, worum er mich gebeten hatte.

Ich trug seinen Körper die Wendeltreppe hinab, in die Bäckerei, wo die Hitze so groß ist, daß ich mich nie daran gewöhnt habe.

Ich war allein dort in der Nacht, der große Ofen war heiß in Erwartung des Brotes, das bald für den hungrigen Tag gebacken werden sollte. Ich schob seinen Körper in den Ofen, schlug die Klappe zu und wartete genau eine Stunde. So lange würde es dauern, hatte er gesagt, bis sein Körper verschwunden wäre. Später, als ich die Klappe wieder öffnete, war nichts mehr übrig. Sein Geist wehte an mir vorbei, wie ein kühler Hauch aus der höllischen Hitze, und das war alles.

 

Ich ging zurück aufs Dach. Dort blieb ich, bis es wieder Nacht wurde. Und da, unter den Sternen und der kaum sichtbaren dünnen Mondsichel, während der milde Wind vom Indischen Ozean mir das Gesicht fächelte, inmitten der Trauer, wurde mir bewußt, daß ich es war, der Nelios Geschichte erzählen mußte.

Kein anderer könnte es tun.

Keiner außer mir. Niemand.

Und die Geschichte mußte erzählt werden. Sie durfte nicht einfach als abgelegtes und friedloses Erinnerungsbild in der Rumpelkammer liegenbleiben, die es in jedem menschlichen Gehirn gibt.

 

Denn es war ja so: Nelio war nicht nur ein armes, schmutziges Straßenkind gewesen. Er war vor allem ein bemerkenswerter Mensch, ungreifbar, vieldeutig, wie ein seltener Vogel, von dem alle reden, obwohl ihn nie jemand wirklich gesehen hat. Obwohl er erst zehn Jahre alt war, als er starb, verfügte er über eine Erfahrung und Lebensweisheit, als hätte er hundert Jahre gelebt. Nelio – wenn er denn tatsächlich so hieß, mitunter nannte er sich nämlich ganz anders – umgab sich mit einem unsichtbaren magnetischen Feld, das niemand durchdringen konnte. Von allen – sogar von den brutalen Polizisten und den unentwegt nervösen indischen Händlern – wurde er mit Ehrerbietung behandelt. Viele suchten seinen Rat oder hielten sich nur vorsorglich in seiner Nähe auf, in der Hoffnung, etwas von seinen geheimnisvollen Kräften würde sich auf sie übertragen.

Und jetzt war Nelio tot.

Tief im Fieber versunken hatte er mühsam seinen letzten Atemzug ausgeschwitzt.

Eine einsame Dünung hatte sich über die Weltmeere fortgepflanzt, dann war alles vorüber, und die Stille erschrekkend in ihrer Leere. Ich sah zum Firmament auf und dachte, nichts würde mehr so sein, wie es war.

Ich wußte, was viele dachten. Ich hatte es selbst gedacht. Daß Nelio eigentlich kein Mensch war. Sondern ein Gott. Einer der alten, vergessenen Götter, die trotzig oder vielleicht tollkühn auf die Erde zurückgekehrt waren und sich in Nelios mageren Körper geschlichen hatten. Oder, wenn schon kein Gott, so war er wenigstens ein Heiliger. Ein Straßenkindheiliger.

Und jetzt war er tot. Fort.

 

Der milde Wind vom Meer, der über mein Gesicht strich, fühlte sich plötzlich kalt und bedrohlich an. Ich sah hinaus auf die dunkle Stadt, die an den Hängen zum Meer hinabkletterte, sah die flackernden Feuer und die vereinzelten Straßenlaternen, von Faltern umtanzt, und dachte: Hier hat Nelio eine kurze Zeit gelebt, mitten unter uns. Und ich bin der einzige, der seine ganze Geschichte kennt. Mir hat er sich anvertraut, nachdem man auf ihn geschossen hatte und ich ihn aufs Dach getragen und auf die schmutzige Matratze gelegt hatte, von der er sich nicht mehr erheben sollte....

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