Am Ende des Gartens - Erinnerungen an eine Jugend
von: Erika Pluhar
Edel Elements, 2013
ISBN: 9783955302054
Sprache: Deutsch
432 Seiten, Download: 1731 KB
Format: EPUB, auch als Online-Lesen
»Am Ende des Gartens gab es einen Graben, der ziemlich tief war und grasbewachsen.« Hier finden spielende Kinder eines Tages einen Stahlhelm – ein Erlebnis, das sich Erika Pluhar zutiefst eingeprägt hat und zum ersten Bild ihrer Erinnerung an die Kindheit wird, die in Lemberg beginnt und überschattet ist vom Krieg. Sie erzählt von der Rückkehr nach Wien, von Bombenangriffen, aber auch von einer Gegenwelt voller Zauber in einem kleinen österreichischen Dorf. Und von den Freuden und Leiden der Heranwachsenden, von den ersten Erfolgen am Max-Reinhardt-Seminar und am Burgtheater, von ihrer großen Liebe und ihrer ersten Ehe. Stück für Stück rekonstruiert sie die Geschichte einer sich selbst bewußt werdenden Frau.
1
Am Ende des Gartens gab es einen Graben, der ziemlich tief war und grasbewachsen. Dahinter begannen bereits Felder und Baumgruppen, Landschaft. Zaun gab es keinen, der Graben schien als Abgrenzung auszureichen. Oder sie kann sich an keinen Zaun erinnern.
Woran sie sich aber deutlich erinnert, und was sie beharrlich als die erste klare Erinnerung ihres Lebens bezeichnet, ist eben dieser Graben. Das scharfe, glänzende Gras darin, jeder Halm ein deutlich abgezeichneter, kräftiger Schaft, hellgrün, nur in der Tiefe des Grabens ein wenig dunkler. Und dort unten hatten sie eines Tages den Stahlhelm gefunden. Wer ihn entdeckt hat, weiß sie nicht mehr genau, sie selbst? Oder Dudusch? Aber wie die Metallkuppe plötzlich vor ihnen aus dem Gras geragt hatte, wie anfänglich nur diese Rundung den Blick auf sich zog und man noch nicht wissen konnte, was es war. Das weiß sie. Das liegt als erfahrenes Bild in ihrem Bewußtsein. Das erste Bild, an das sie sich erinnert.
Die Äste eines Apfelbaumes, weiße Kleider aus Organdy – davon gibt es ein Foto, kein erinnertes, sondern ein festgehaltenes Bild. Sie und Dudusch, weiß gekleidet. Jedenfalls sieht es auf dem alten Schwarzweißfoto so aus. Ihre Mutter erzählt, das Kleid sei hellblau gewesen. Wie das der um fünf Jahre älteren Schwester, beide wurden sie in denselben hellblauen Organdy gehüllt, es waren die berühmten Organdykleider, ein geflügeltes Wort innerhalb der Familie. Hoch oben in den Ästen eines Baumes stehen sie und lächeln manierlich herunter. Daß der Baum ein Apfelbaum war, ist wahrscheinlich Erfindung, es klingt lyrischer.
Zwei kleine Mädchen auf einem Baum. Auf manchen Fotos dazu der kleine Junge. Aber es gibt auch eines, wo nur sie mit Dudusch in den Ästen steht. Er mit seinem dunklen, auf der Stirne schnurgerade geschnittenen Haar. Sie muß das Foto hervorsuchen. Er war der erste Freund ihres Lebens, das steht fest, der erste Mensch, mit dem sie sich innig und unerschütterlich verbunden fühlte. Den sie mehr geliebt hat als Vater und Mutter.
Und gemeinsam haben sie und Dudusch an diesem Tag, dem ersten, der in ihrem Bewußtsein erhalten zu sein scheint, einen Stahlhelm gefunden und aus dem Gras gezogen. Sie liefen mit ihm zum Haus zurück und schrien aufgeregt. Wer immer sie zuerst damit entdeckte, auf jeden Fall wurde er ihnen schnell entrissen. Man schien keine Freude an diesem Anblick gehabt zu haben, kleine, pausbackige Kinder, etwas mehr als drei Jahre alt, einen riesigen, verdreckten Stahlhelm schleppend wie eine seltene Trophäe. Zu einer Zeit, wo allerorten Männer mit Stahlhelmen herumliefen. Man fragte sich wohl auch besorgt, wie der Stahlhelm in diesen friedlichen hausnahen Graben gelangt war.
Hinter dem Abenteuer, in den Graben hinunterzuklettern, nach dem metallenen Ding zu greifen und es hochzuziehen, kam gleichzeitig die erste Ahnung von Dunklem, Beängstigendem auf. Zum ersten Mal wurde ihr bewußt, wie ein Schatten sich über alles legen kann, auch wenn Sonne und Wiesengrün unverändert bleiben. Dieser Schatten, den die eigene Angst, das eigene Unbehagen auswirft. Sie erinnert sich, daß sie, als der Stahlhelm hervorgezogen war, den dazugehörigen Toten erwartete als folgerichtige nächste Entdeckung. Sie hatte sich umgesehen – nach einer Hand, einem Stiefel, nach einem leblosen Profil, aus den dichten Grashalmen ragend.
Inwieweit Dudusch diese Erwartung mit ihr teilte, kann sie nicht mehr sagen. Und auch nicht, woher sie selbst von toten Soldaten wußte. Lebte sie doch abgeschirmt in dem großen Haus mit dem großen Garten, in einem Randbezirk von Lemberg, der polnischen Stadt, an die sie sich nicht erinnert.
Das heißt – sie sieht ein winterliches Bild vor sich, Schnee, so dicht gefallen und knirschend gehäuft wie kaum jemals danach. Oder lag es daran, daß sie erstmals Schnee so dicht und weiß gesehen hat? Jedenfalls zog ihr Vater den hölzernen Schlitten, auf dem sie saß. Zog er sie durch Lemberger Straßen, oder war es ein Park? Sie erinnert sich jetzt an verschneites Stadtgebiet, der Schnee sauber und im kalten Sonnenlicht blitzend und in ungeheurer Fülle aufgetürmt. Nur das.
Im übrigen reduzieren sich ihre Eindrücke auf das große Haus und seine nähere Umgebung. Jedenfalls glaubt sie, daß das Haus sehr groß war. In jedem Stockwerk umzog es ein Balkon aus dunkel gestrichenem Holz. In einem Eßzimmer mit langen weißen Vorhängen hat sie eines Nachmittags endlose Zeit vor dem Teller mit einer kalt gewordenen Grießnockerlsuppe gesessen, während Dudusch im Garten nach ihr rief. Sie versuchte ihm vergeblich zu signalisieren, daß sie von einer plötzlichen Erziehungsmaßnahme ihrer Eltern am Tisch festgehalten wurde, »du stehst erst auf, bis du aufgegessen hast«. Er konnte nicht verstehen, warum sie so lange im Eßzimmer bleiben mußte, und brüllte immer wieder ihren Namen. Sie saß vor der kalten Suppe, die sich langsam mit einer Haut gestockten Fetts überzog. Und den Ekel vor Grießnockerln hat sie Jahre ihres Lebens nicht ablegen können, er blieb das einzige Resultat dieser ungewohnten elterlichen Strenge. Die Suppe hat sie jedenfalls nicht aufgegessen. Und als man sie endlich entließ, waren ihre Augen vom zornigen Weinen verschwollen, ihr Herz jedoch ungebrochen und stolz. Sie kroch mit Dudusch unter die Brombeerhecken und berichtete von der erfolgreich abgewehrten Demütigung. In all der Zeit hatte er nicht damit aufgehört, unter dem Fenster in enervierend regelmäßigen Abständen »Eeeeerika!« hinaufzubrüllen, verzweifelte Schreie eines verlassenen Jungtieres, die ihre Eltern derart zermürbten, daß man sie schließlich freigab.
Die Brombeerbüsche wuchsen hoch und wild und erfüllten einen beträchtlichen Teil des Gartens. In ihrem Inneren gab es Gänge, Höhlengänge, geschaffen durch hindurchkriechende Kinder. Denn wenn die Beeren reif waren, fand man in der Tiefe die größten und dunkelsten. Aber auch in Zeiten, in denen es nichts zu ernten gab, kroch sie gern in den Schatten der Hecken und kauerte dort, still wie ein lauschendes Tier. Der Erdboden in den Gängen verlor nie seine leichte Feuchtigkeit und Kühle, die Brombeerblätter standen still, fügten sich trotz ihres Wucherns seltsam geordnet ineinander. Am liebsten hockte sie allein da drinnen, sogar ohne Dudusch und den ergebenen Blick seiner runden dunklen Augen. Allein und regungslos, beide Arme um die Knie geschlungen, ohne irgend etwas oder irgend jemand zu vermissen, in köstlicher Zufriedenheit. Sie verlor sich in einem Naturgefühl. Als gäbe es nur noch Erde unter ihren Fußsohlen und dichtes Blattwerk um ihren Kopf und die Geräusche der Würmer und Insekten ringsum. Kreatürliche Einsamkeit wurde ihr bewußt, oder sie empfand sie nur. Konnte sich, in sie gehüllt, von sich selbst lösen.
Immer wieder hat sie einen solchen Zustand, wenn es ihr gelang, ihn zu erfahren, als Krönung und Rechtfertigung ihres Lebens empfunden. Wenn sie das beunruhigte Wissen um sich selbst ablegen konnte, wurde sie mit sich eins.
Dann war da das Nachbarhaus. Wohl noch um einiges größer und mächtiger. Ein herrschaftliches Haus mit Park. Und mit einem kleinen Teich, der im Winter zufror. Sie erinnert sich an Schlittschuhlaufen und Wintermäntel mit pelzgefütterten Kapuzen, aber es war ihre Schwester, es waren andere Kinder, die über das Eis liefen. Sich selbst sieht sie am Rand des Teiches stehen, frierend zuschauen und mit schlechter Laune kämpfen. In der Eiseskälte fühlt sie sich unbehaglich, vom Treiben der anderen ausgeschlossen.
Und mit schlechter Laune bleiben alle ihre Erinnerungen an das Nachbarhaus verbunden. Der »Gouverneur« lebte dort mit seiner Familie. Ihr Vater war Sekretär dieses Gouverneurs, jedenfalls untergeordnet bei ihm tätig. Offenbar bedeutete es eine Ehre, wenn man als Kind bei den Kindern dieses Hauses eingeladen war, man wurde hübsch angezogen und zu artigem Benehmen ermahnt. Sie erinnert sich jedoch an winterlich dunkle Zimmerfluchten, in denen das Licht abgedreht wurde, an wild herumhuschende, kichernde und erhitzte Kinder, die sie in der Finsternis anrempelten. Sie erinnert sich an Empfindungen größter Verlassenheit.
Erzählt wurde ihr, sie habe immer laut zu plärren begonnen und die anderen beim Spiel gestört. Sie selbst hätte eher angenommen, sie wäre stumm und isoliert geblieben, zu Stein erstarrt. Schon damals also der Kontrast zwischen innerer Befindlichkeit und äußerem Anschein.
Der »Gouverneur« – das war der deutsche Gouverneur in Polen. Ein Obernazi, um es unmißverständlich auszudrücken. Er hieß Franz Wächter, floh nach dem Krieg und beging in irgendeinem Kloster Selbstmord. Ihr Vater war ebenfalls Nazi, zu seinem Glück kein Obernazi. Er war der Prototyp des Befehlsempfängers, dabei durchaus enthusiastisch, seine Befriedigung stets im Gehorsam findend, ziemlich feige und mit allen Fasern seiner Seele autoritätsgläubig. Sein Drang zur Unterordnung erwies sich später als Vorteil, er hatte im Naziregime keinerlei Position erlangt und eine solche auch nie angestrebt....