Geschichte Japans
von: Manfred Pohl
C.H.Beck, 2002
ISBN: 9783406479908
Sprache: Deutsch
113 Seiten, Download: 366 KB
Format: PDF, auch als Online-Lesen
2. Hochblüte japanischer Kultur: Heian-Zeit und Fujiwara-Herrschaft (S. 22-23)
Ökonomische und politische Gründe gleichermaßen erzwangen also eine Verlegung der Hauptstadt; nicht mehr Tabu-Vorstellungen, sondern «staatspolitische» Erwägungen gaben den Ausschlag. Die endgültige Entscheidung zur Verlegung der Hauptstadt fällte Kaiser Kammu (781–806), der von vielen japanischen Historikern als die stärkste Herrscherpersönlichkeit in der Geschichte Japans angesehen wird. Kammu bestieg 781 den Thron, im Jahre 794 wurde die Hauptstadt endgültig verlegt. Kammu sicherte die unbestrittene kaiserliche Zentralgewalt, und noch seine Söhne konnten bis 830 unangefochten regieren. Frühere Hauptstädte «verschwanden» meist, wenn die Residenz des Kaisers verlegt wurde, Nara aber blieb als religiöses Zentrum, als städtebauliches und architektonisches Zeugnis früher buddhistischer Macht weitgehend erhalten.
Die neue Hauptstadt erhielt den Namen Heiankyo (etwa «Hauptstadt des Friedens»), der auch die folgende Epoche von mehr als zweihundert Jahren bezeichnet (Heian-Zeit). Der Ort blieb tausend Jahre lang Hauptstadt des Landes, wenn auch die kaiserliche Residenz selten wirkliches politisches Machtzentrum des Landes war. Die Heian-Epoche (794–1185) läßt sich bis Ende des 12. Jahrhunderts in drei deutlich unterscheidbare Phasen einteilen. In der ersten Phase, die bis Mitte des 9. Jahrhunderts währte, besaßen die Kaiser die unbestrittene politische Zentralgewalt, sie stützten sich auf einen reibungslos funktionierenden Beamtenapparat, der noch in der Nara-Zeit aufgebaut worden war. Die Fujiwara-Fürsten waren einflußreiche Ratgeber bei Hofe – nicht mehr.
Es folgte eine zweite Phase von etwa zweihundert Jahren, in der die Familie der Fujiwara die wirkliche Macht an sich zog, in Heiankyo und damit im ganzen Lande eine Reihe schwacher Kaiser kontrollierte und ihre Fami- lieninteressen mit den Interessen des Staates gleichsetzte. In der Endphase der Heian-Zeit schließlich büßten die Fujiwara zwar ihren gewaltigen politischen Einfluß ein, aber die zentrale Regierungsgewalt des Kaisers wurde damit nicht stärker. Fast einhundert Jahre lang herrschten jetzt auf der politischen Bühne in der Hauptstadt abgedankte Kaiser, die aus der Abgeschiedenheit buddhistischer Klöster oder ihrer privaten Residenzen unmündige Söhne oder schwache Herrscher wie Puppenspieler an Fäden führten. Diese Form indirekter Herrschaft fügte im 12. Jahrhundert dem Ansehen des Kaiserhauses schweren Schaden zu.
Parallel zur allmählichen Schwächung der kaiserlichen Zentralgewalt erstarkte der landgebundene Adel. Gegen Ende der Heian-Zeit hatte sich in der rechtlichen Form des Grundbesitzes ein tiefgreifender Wandel vollzogen: Rechtstitel an Grund und Boden wurden nicht länger vom Kaiserhof an den Beamtenadel vergeben, sondern Grund und Boden war zunehmend als erbliches Privateigentum zur Machtbasis eines erstarkten Landadels geworden. Die landbesitzenden Provinzfamilien konnten Ende des 12. Jahrhunderts zunehmend die Zentralmacht des Kaisers «ausbalancieren» – es hatte sich ein Urmodell jener dualen Herrschaftsstruktur herausgebildet, das jahrhundertelang typisch für die Machtverteilung in Japan sein sollte: Kaisertum gegen Provinzadel. Zwar wurde das Gleichgewicht zwischen landbesitzenden Provinzfürsten und kaiserlicher Zentralgewalt immer wieder verschoben – meist zum Nachteil der Kaiser –, aber die machtpolitischen Grundstrukturen blieben bis Mitte des 19. Jahrhunderts erhalten.