Geschichte Indiens
von: Dietmar Rothermund
C.H.Beck, 2002
ISBN: 9783406479946
Sprache: Deutsch
131 Seiten, Download: 4032 KB
Format: PDF, auch als Online-Lesen
V. Krieg, Krise, Krieg und Freiheitskampf (S. 70-71)
Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs setzte eine turbulente Zeit der europäischen Selbstzerfleischung ein, die schließlich auch Indien die Freiheit bescherte. Doch legte man in Indien nicht die Hände in den Schoß, um sich die Freiheit durch den Gang der Geschichte zufallen zu lassen. Es begann ein intensiver Freiheitskampf unter der Führung Mahatma Gandhis, der das politische Leben Indiens für lange Zeit prägte.
Während des Krieges war davon natürlich noch nichts zu merken, weil alle politischen Aktivitäten durch das Kriegsnotstandsgesetz (Defence of India Act) unterbunden wurden. Tilak, der Führer der «Extremisten», der 1908 zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt worden war, kehrte 1914 in die indische Politik zurück. Er hielt sich unter den gegebenen Umständen politisch zurück.
Bald aber wurde man wieder auf ihn aufmerksam, als er 1916 im Auftrag des Nationalkongresses einen Pakt mit Mohammed Ali Jinnah, dem Führer der Muslim Liga, schloss. Jinnah hatte sich schon vor dem Krieg als brillanter Anwalt und Vertreter der Muslim-Interessen in der zentralen Legislative profiliert. Er war ein liberaler Nationalist, dem Gokhale ein Vorbild war. Der Muslim Liga war er erst beigetreten, als man ihm zusicherte, dass dies nicht im Konflikt mit seiner Mitgliedschaft im Nationalkongress stehe. Die panislamischen Sympathien der indischen Muslime mit dem türkischen Kalifen, der im Krieg zum Gegner der Briten wurde, entflammten sozusagen einen «Quasi- Nationalismus» bei ihnen. Jinnah war kein Panislamist. Man konnte ihn daher auch nicht als «Quasi-Nationalisten» bezeichnen, aber als Politiker machte er sich nichtsdestoweniger zum Sprecher der von diesem Gefühl übermannten Muslime.
Der Pakt, den er mit Tilak schloss, betraf eine Übereinkunft über die Sitzverteilung in den Landtagen der britisch-indischen Provinzen bei der nach dem Krieg zu erwartenden weiteren Verfassungsreform. Tilak kam Jinnah im Interesse der Zusammenarbeit von Kongress und Liga in der Frage der Vertretung der Muslime in den Provinzen, in denen sie in der Minderheit waren, weitgehend entgegen und räumte ihnen dort mehr Sitze ein, als es ihrem Bevölkerungsanteil entsprochen hätte. Die Zeche sollten die Provinzen mit muslimischer Mehrheit (Bengalen und Panjab) bezahlen, die darauf verzichteten, dort die Mehrheit der Sitze zu beanspruchen. Jinnah war in erster Linie der Sprecher der Muslim-Diaspora, daher war es ihm durchaus recht, dass er für sie einen guten Handel abgeschlossen hatte. Tilak musste besonders auf die Hindus in Bengalen achten, er konnte darüber froh sein, das Jinnah ihm dort entgegenkam.
Doch der ganze Handel war nur dann unproblematisch, wenn es bei der künftigen Verfassungsreform wieder nicht darum ging, regierungsfähige Mehrheiten zu erhalten. In dieser Hinsicht machte aber die Ankündigung des Indienministers Edwin Montagu vom August 1917 einen Strich durch die Rechnung der Pakt-Partner.
Montagu verkündete, dass es das Ziel der nächsten Verfassungsreform sein werde, «responsible government» in Indien einzuführen. Das bedeutete eine Beteiligung von Indern an der Exekutive, die sich dann auf Mehrheiten in der Legislative stützen mussten. Wie Montagu und der Vizekönig Lord Chelmsford in ihrem gemeinsamen Bericht, der nach dem Kriege veröffentlicht wurde, deutlich feststellten, waren separate Wählerschaften mit diesem Prinzip nicht vereinbar, konnten aber nicht wieder abgeschafft werden, weil sie von den Muslimen inzwischen als politischer Besitzstand betrachtet wurden.
Bei der Verteilung der Sitze in den Landtagen berief man sich dann auf den Kongress-Liga-Pakt, ohne zu berücksichtigen, dass er eine andere Geschäftsgrundlage hatte. Zugleich mutete man aber den Provinzen mit muslimischer Mehrheit nicht zu, die Zeche zu bezahlen. Jinnah konnte zufrieden sein, aber den Kongress hatte man über den Tisch gezogen. Tilak starb 1920 und erlebte daher die Perversion des Pakts, für den er verantwortlich gewesen war, nicht mehr mit.