Pop-Tragödien - Die spektakulärsten Fälle von den Beach Boys bis Nirvana

Pop-Tragödien - Die spektakulärsten Fälle von den Beach Boys bis Nirvana

von: Ingeborg Schober

Fuego, 2013

ISBN: 9783862870875

Sprache: Deutsch

190 Seiten, Download: 692 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Pop-Tragödien - Die spektakulärsten Fälle von den Beach Boys bis Nirvana



Soeur Sourire ist tot - sie ist tot, es wurde Zeit. Ich sah ihre Seele auf einem fliegenden Teppich durch die Wolken fliegen ...« - Wie kommt eine bis dahin unbeschwerte und unbescholtene Nonne, die unter dem Künstlernamen Soeur Sourire mit ihrem fröhlichen Chanson »Dominique« 1963 die internationalen Hitparaden erobert hatte, dazu, solche Textzeilen für ein Lied zu schreiben? Auch wenn man aufgrund ihres tragischen Todes 1985 versucht ist zu glauben, sie hätte bereits damals, 1967, Selbstmordgedanken gehegt, ist das pure Spekulation. Die »lächelnde Nonne« oder die »singende Nonne«, wie sie in die Geschichte der Popmusik einging, wollte damit vielmehr eine weitere ihrer Alias-Figuren, eines ihrer Pseudonyme, begraben, um unter dem neuen Namen Luc Dominique ein neues Kapitel ihres kurzen und dennoch sehr bewegten Lebens aufzuschlagen. Denn später heißt es im Text:

»Soeur Sourire ist tot - sie ist tot, es wurde Zeit …, ich habe meine Mitmenschen um die Erlaubnis gebeten, mich weiter zu entwickeln, geweiht unter ihnen zu leben, in Shorts oder Kleidern, Blue Jeans und Pyjama ...«.

Jeder dieser sehr unterschiedlichen Lebensabschnitte fand unter einem anderen Namen statt. Man könnte also durchaus behaupten, die Frau hatte keine wirkliche Identität - oder vielmehr, sie hatte ihre Identität schon geopfert, als sie ins Kloster eintrat.

Ihr richtiger Name war Jeanine (Jeanne-Paule Marie) Deckers. Geboren wurde sie am 17. Oktober 1933 in Brüssel als Älteste von vier Geschwistern - Hubert, Edgard und Madeleine. Ihr Vater Lucien war Konditormeister und die Mutter Gabrielle Hausfrau. Sie hatten 1932 geheiratet, er mit 29, sie mit 20. Die wohlbehütete Kindheit endete für Jeanine mit dem Ausbruch des 2. Weltkrieges. Ihr Vater Lucien befürchtete zu Recht, dass auch der wallonische Teil Belgiens darunter leiden würde. Also machte er sich zu Beginn des deutschen Westfeldzuges mit seiner Familie nach Frankreich auf, in der Hoffnung, die Franzosen würden der Übermacht der deutschen Wehrmacht länger standhalten. Doch als sie endlich in Paris ankamen, war dieses bereits von den Deutschen besetzt. Vater Lucien kämpfte als Mitglied der Résistance im Untergrund gegen die Nazis und ließ seine Familie oft in Paris allein, wo sie sich bis Kriegsende 1945 mehr schlecht als recht über Wasser hielt. Danach kehrten die Deckers wieder nach Belgien zurück. Jeanine, die mit ihren zwölf Jahren bereits alle Schrecken, die ein Krieg mit sich bringt, erlebt hatte, machte in Saint Henri nahe Brüssel ihren Schulabschluss.

Die introvertierte Jeanine hatte schon sehr früh ein zeichnerisches und malerisches Talent gezeigt und kehrte 1953 nach Paris zurück, um sich dort an einer Kunstschule als Zeichenlehrerin ausbilden zu lassen. Danach unterrichtete sie bis 1959 an einer Mädchenschule in ihrer Heimatstadt Brüssel.

Was in diesem Jahr zu einem extremen Bruch in ihrem Lebenslauf und einer völlig neuen Orientierung führte und sie dazu brachte, dem Dominikanerinnenorden von Fichermont bei Waterloo beizutreten, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Bis dahin hatte sie keinerlei Anzeichen überzeugter oder schwärmerischer Religiosität gezeigt. Auch ihre Familie war offenbar nicht sonderlich religiös geprägt. Aus finanzieller Not heraus geschah es ebenfalls nicht und es wird auch von keinem spirituellen Schlüsselerlebnis berichtet, das sie zu diesem Schritt bewegte.

Doch sie war verlobt und offenbar bitter enttäuscht, als der Verlobte sie sitzen ließ. So ist die Vermutung am naheliegendsten, dass sie letztlich wegen einer unglücklichen Liebe ins Kloster flüchtete. Dafür spricht, dass sie Mitte der 1960er Jahre in einem Interview Folgendes eingestand: »Ich bin nicht gegen die Ehe, aber die meisten Ehen, die ich kenne, sind deprimierend ... ich bin mir sicher, dass auch unsere Ehe nicht funktioniert hätte, wenn ich meinen Verlobten geheiratet hätte. Ihm fehlte eine gewisse Abenteuerlust.«

Gleichzeitig erklärte sie in diesem Interview auch noch: »Vielleicht heirate ich ja einen netten Dominikanerpriester und wir bekommen Dominikanerbabies. So unwahrscheinlich, wie das klingt, ist das gar nicht.«

Ihre Art von Humor war manchmal so seltsam, dass die Leute oft nicht wussten, ob sie es ernst meinte oder sich über ihr Gegenüber lustig machte. Deshalb hielten sie die einen für etwas einfältig, die anderen für eine Zynikerin. In Wirklichkeit war sie wohl nur eine Träumerin.

Im Kloster wurde sie zu Schwester Luc-Gabrielle - auch dazu existieren zwei Erklärungen. Der ersten Version zufolge nannte sie sich einfach nach den Vornamen ihrer Eltern, der zweiten - und wesentlich romantischeren nach - war es der Vorname ihres verflossenen Verlobten.

Im Konvent herrschten damals noch strenge Regeln, die Nonnen durften zum Beispiel nur selten miteinander reden. Doch Luc-Gabrielle hatte ihre Gitarre mitgebracht und unterhielt sich und ihre Mitschwestern mit religiösen Liedern, anfangs sehr zum Ärger der Mutter Oberin. Doch bald hatte Luc-Gabrielle deren Segen, da zur Tradition des Ordens auch die Jugendarbeit gehörte, und die junge Schwester bei Treffen mit jungen Mädchen das kirchliche Liedgut pflegte. Irgendwann fing sie an eigene Lieder zu komponieren, darunter auch das aufmunternde Chanson »Dominique« über den Begründer des Dominikanerordens:

»Dominique, Dominique, der zog

fröhlich in die Welt, zu Fuß und ohne Geld.

Und er sang an jedem Ort immer wieder Gottes Wort ...

Ohne Pferd und ohne Wagen zog er durch Europa hin,

denn die Armut war ihm heilig, sie war seines Lebens Sinn ...«

Domingo de Guzman hatte 1215 den Bettelorden gegründet, der durch Predigt und Unterricht die dem Papsttum feindlich gesinnten Albigenser »zurück auf den rechten«, also papsttreuen

Kurs bringen sollte. Er wurde später heilig gesprochen. Luc-Gabrielle beschrieb in ihrem Lied »Dominique« fröhlich und beschwingt das Leben des »mutigen und braven Heiligen«. Natürlich wies sie dabei weder auf die Rolle des Ordens in den blutigen Kriegen gegen die Albigenser oder gar auf die führende Rolle der Dominikaner während der Inquisition hin. Kritik an der Kirche prägten erst ihre späteren Texte. Als sie ein Plattenstudio für eine kostenlose Aufnahme fand, machte sie der Schwester Oberin eine Single des Liedes zum Geschenk. Diese beschloss, mit der Platte Geld für die Missionarsarbeit des Ordens in Afrika zu sammeln, obwohl sie sich später sehr abfällig über den Song äußerte - »zu kavaliersmäßig und oberflächlich«. In der »Newsweek« wurde sie später gar so zitiert: »Der heilige Dominik wurde hier mit plumper Vertraulichkeit und mit einem Anflug von Impertinenz abgehandelt.« Im Verlauf der Zeit wurde klar, dass das Verhältnis der beiden Frauen von Anfang an großen Spannungen unterlag.

Auf Umwegen bekam der holländische Plattenkonzern Philips die Single zu hören, erkannte das Verkaufspotenzial und nahm die singende Nonne unter Vertrag. Zu Recht witterte man dort einen neuen Hit, denn religiöse Popschlager und klerikale Chansons schienen nach dem Erfolg von »Danke für diesen guten Morgen« von Jesuitenpater Père Duval der neueste Trend zu sein und standen entsprechend hoch im Kurs. Das ging Hand in Hand mit der kirchlichen Öffnung: Mit dem 2. Vatikanischen Konzil - 1962 von Papst Johannes XXIII ins Leben gerufen - wurde die Modernisierung der katholischen Liturgie vorangetrieben. Damit sollten auch die Laien gestärkt und der Gedanke der Ökumene gefördert werden.

Trotzdem durfte Luc-Gabrielle als Nonne natürlich keine Geschäfte tätigen, also wurde der Plattenvertrag mit dem Orden abgeschlossen. Den miserablen Bedingungen nach standen der Nonne drei Prozent von den insgesamt neunzig Prozent des belgischen Großhandelspreises und lächerliche anderthalb Prozent für Auslandsverkäufe zu. Laut Vertrag durfte sie weder den Ordensnamen nennen noch Fotos von sich veröffentlichen. Beides Punkte, bei denen sich der Orden in den kommenden Jahren wie in vielen anderen Dingen ebenso inkonsequent wie unmenschlich verhielt.

Da die Plattenfirma ohnehin nach einem griffigen Künstlernamen suchte, beauftragte sie eine Schulklasse mit dem Brainstorming und der Gewinner auf der Vorschlagsliste war »Soeur Sourire«, die »lächelnde Nonne«. 1963 wurde die Single »Dominique«, teils englisch, teils französisch gesungen (später folgte auch eine deutsch gesungene Version) veröffentlicht. Die Zeichnung der musizierenden Nonnen auf dem Plattencover stammte von Soeur Sourire selbst, die später auch den Umschlag für die LP »The Singing Nun« gestaltete.

Die Nonne ließ sich bestens vermarkten - und bald war im wahrsten Sinne des Wortes die Hölle los. Das naive Chanson wurde binnen kürzester Zeit ein Hit in Belgien und Frankreich, eroberte die Top Ten von Deutschland und den Beneluxländern und avancierte zum weltweiten Millionenseller mit unzähligen Coverversionen - und zur Hymne von Pfadfindern und Wandervögeln. Der singenden Nonne gelang sogar etwas, was bis dahin nur Elvis Presley geschafft hatte: sowohl die LP »The Singing Nun« als auch die ausgekoppelte Single »Dominique« standen im Dezember 1963 auf Platz 1 der US-Charts. Die Single verdrängte gar Elvis Presley von der Chartspitze, wurde als erste europäische Single - und bis heute als einzige aus Belgien - mit einem Grammy ausgezeichnet, und zwar in der Kategorie »Bester Gospel beziehungsweise religiöse Musikaufnahme«.

Als sie das Angebot bekam, 1964 in der populären, amerikanischen Fernsehsendung The Ed Sullivan Show aufzutreten, lehnte der Konvent das natürlich ab. Doch man hat nicht mit der Hartnäckigkeit und Chuzpe der Fernsehmacher gerechnet, die eines Tages mit dem Talkmaster Ed Sullivan persönlich samt einem riesigen Team im Kloster Fichermont...

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