Gesetzlos
von: René Belletto
Matthes & Seitz Berlin Verlag, 2013
ISBN: 9783882211757
Sprache: Deutsch
448 Seiten, Download: 808 KB
Format: EPUB
Ich heiße Luis Archer.
Am 6. Juni ’66 auf den Tag vor zweiundvierzig Jahren kam ich auf die Welt.
»Am 6. Juni ’66 auf den Tag vor zweiundvierzig Jahren schied ich aus der Welt …«
Ich war selber erstaunt, wie erbarmungslos hellsichtig ich diesen zweiten Satz formulierte, erstaunt über meine Geneigtheit, ihm vorgeblich Glauben zu schenken an diesem herrlichen Vormittag des 6. Juni 2008, als ich mit Clara in Saint-Maur auf der Place de l’Église stand und mir die Welt ringsumher derart wirklich erschien.
Es war Freitag, Markttag. Ich hielt Claras Hand fest in meiner. Gemächlichen Schrittes schlenderten wir durch die freundliche, murmelnde Menge: Kunden, die aufmerksam die Auslagen betrachteten, die Pupillen in steter Alarmbereitschaft, wenn es daran ging, Kirschen zu prüfen, Birnen zu befingern oder an Melonen zu schnuppern, als offenbare sich einem auf diese Weise das Größte im Leben oder sein Geheimnis.
Claras Hand in meiner fühlte sich warm und frisch an.
Hätte Maxime noch gelebt, wäre mein Glück grenzenlos gewesen – mein lieber, guter Maxime, mein alter Freund, der am vergangenen 24. Mai unter so grausamen Umständen ums Leben gekommen war!
Ein Händler pries ein Stück rohen Schinken an und riss vor Begeisterung die Augenbrauen bis zum Haaransatz hoch. Clara ließ sich anlocken.
»Neun Scheiben«, sagte sie. »Schön dünn.«
Zwar bin ich nicht gerade verrückt nach rohem Schinken, noch nach Fleisch im Allgemeinen. Doch als sie sich umdrehte und mich nach meiner Meinung fragte, pflichtete ich ihr bei – einfach um ihr einen Gefallen zu tun, ihr eine Freude zu machen – mit einem zärtlichen, stummen »Ja«.
Sie lächelte mich an.
Claras Schönheit, der schlanke, hohe, geschmeidige Wuchs ihres Körpers, in dessen Umriss sich die Linien ihrer Brust und ihres Hinterns so harmonisch einfügten, verzückte mich in jedem Augenblick.
Ihr Lächeln entblößte die obere Zahnreihe nur einen Hauch zu weit. »Einen Hauch zu weit«, damit meine ich jene paar Zehntelmillimeter, ohne die ihr Lächeln weniger vollkommen, ihr Liebreiz und ihre Sinnlichkeit weniger zerstörerisch gewesen wären – und ich nutze den deskriptiven Impetus, der mich offenbar erfüllt, um eine Bemerkung über ihre Augen und ihr Haar einfließen zu lassen (bevor ich zu allgemeinen Betrachtungen übergehe): Clara hatte blau-grüne Augen, die (wie mir aufgefallen war) sich zu bestimmten Tageszeiten oder (wie sie mir gesagt hatte) in bestimmten Momenten ihres Lebens verdunkelten – Augen, in denen die sprühende Frische ihrer Jugend funkelte und die der tiefe, zeitlose Ernst ihres Ausdrucks so ergreifend machte. Ihr langes, blondes, dichtes Haar hingegen, das die Rundung ihrer Schultern (oder auch nur einer Schulter) lieblich umschmeichelte, betörte mit seiner hellen, doch stellenweise auch dunklen Farbe, wobei der Übergang von hell zu weniger hell sich mal übergangslos, mal in fein nuancierten Farbabstufungen vollzog, wie von einem Maler aufgetragen, dessen Verliebtheit seiner hohen Meisterschaft in nichts nachgestanden hätte.
Wir wissen, dass eine große Liebe oder das, was man dafür hält, zuweilen an Nichtigkeiten hängt. So bezeichnet man eine solche Liebe bereitwillig als rätselhaft, vorherbestimmt, göttlichen Ursprungs und unvordenklich alt, obwohl sie bloß von einer Asymmetrie am Körper der Geliebten herrührt, die erst eine Woche zuvor bemerkt wurde, von der unvorstellbaren Zartheit der Haut, die den Fußknöchel überzieht, von irgendeinem besonderen Kräuseln der Lippen, wenn sie lächelt. Zwar würde ich nicht so weit gehen zu behaupten, dass derlei Gründe (das Wunder von Claras körperlicher Schönheit) überhaupt keinen Einfluss auf jene Liebe gehabt hätten, die mich vom ersten Blick an zu ihr trieb. (Auch will ich gleich verraten, dass dieser erste Blick nicht auf Clara selbst, sondern auf ein Bild fiel, das ihr Onkel Michel gemalt hatte, auf ein Gemälde von Michel Nomen mit ihrem Antlitz.) Doch will ich gern einräumen, dass in der Entstehung meiner Hingezogenheit zu ihr – und ihrer Hingezogenheit zu mir – ein unerklärliches Element … Wie soll ich sagen? Ich kann nur hoffen, dass der Bericht meines langen und außergewöhnlichen Abenteuers den Leser – aber auch mich – am Ende die Echtheit unserer Liebe erahnen lässt (und wie ich hoffe, hoffen muss, auch die Echtheit aller Dinge).
Sie wechselte ein paar Worte mit dem Händler über seine Ware, das schöne Wetter.
Ihre Stimme war eine klingende Liebkosung.
Neun Scheiben rohen Schinkens (dazu vier Kalbsschnitzel) wurden beglichen. Dann kam Clara mir wieder entgegen, wobei ihr kurzes granatrotes Kleid sie mit einem Schlag Verzögerung begleitete. Die Spur jener Schramme, die sie sich in Opera über dem Knie zugezogen hatte, war verblasst, zu einem rosafarbenen Fleck mit unscharfen Umrissen, wie eine kunstvolle Verzierung ihres gebräunten Schenkels.
Wir setzten unsere Einkäufe fort, Brot, frischen Zwieback, Spargel und Obst.
Ich betrachtete Clara im prallen Sonnenlicht.
Bevor wir den Markt verließen, blieben wir stehen und sahen uns in die Augen. Sie beugte sich vor und küsste mich, unsere geschlossenen Lippen berührten sich.
Dies war unser erster Kuss.
Dann drückte ich sie fest an mich und vergrub das Gesicht in ihrem Haar.
»Am 6. Juni ’66 auf den Tag vor zweiundvierzig Jahren schied ich …« Was mag eine solche Aussage bedeuten? Dass der, der sie ausspricht, auferstanden ist? Dass es ein Leben nach dem Tod gibt und es zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte einem Toten gelungen ist, mit den Lebenden zu kommunizieren, ihnen so etwas wie einen Brief, einen langen Brief zu schreiben, den Bericht über sein neues Leben? Dass die geistige Kraft, die den Menschen antreibt, just im Moment seines Todes in den Körper eines Neugeborenen schlüpft? (Das jedenfalls glaubte Maxime, oder zumindest wollte diese verzweifelte Figur das glauben. Er kam an einem Abend vor zwölf Jahren, als wir unseren Geburtstag bei ihm feierten, mit weniger Ironie als sonst darauf zu sprechen, daran erinnere ich mich noch genau.) Seit einigen Tagen kann ich selbst nicht umhin, dies in Betracht zu ziehen, um genau zu sein: seit dem 2. Juni – jenem Tag, an dem ich Clara begegnete, unter Umständen, die es uns beiden unmöglich machten, dem anderen sein Leben nicht bis ins intimste Detail zu erzählen. Wenn ich genau in jener Stunde zur Welt gekommen bin, in der Claras Großvater verschied (den Punkt muss ich noch prüfen), und wenn tatsächlich er, Albin Nomen, einst den kurzen Vierzeiler in das Tagebuch seiner Tochter Lucie, Claras Mutter, geschrieben hat …
Das Rätsel (wenn es denn eins gibt) wird zu gegebener Zeit gelüftet werden – oder an Verworrenheit gewinnen, das weiß ich noch nicht, und jene Schlichtheit und Klarheit verlieren, die allem Anfang innewohnt und die auch ich ihm gern verleihen würde, mit anderen Worten, wenn mich der dichte und flüchtige Strom der Wirklichkeit, die ich mich anschicke wiederzugeben, wieder fortgerissen hat, komme ich vielleicht nie wieder mit so ausdrücklicher Klarheit auf dieses Rätsel zu sprechen.
Auf diesem Gebiet, muss man’s erwähnen, ist natürlich alles unbewiesen. Der Leser wird sich seine Meinung bilden, wenn und wann er es wünscht.
Was mich betrifft, so haben die unerhörten Begebenheiten, die sich seit Maximes Tod zugetragen haben, mich nur verwirrt – ganz zu schweigen von der geradezu unvorstellbaren Begebenheit, die sich in den Nachmittagsstunden dieses Markttags am Freitag, den 6. Juni 2008 ereignen sollte und die meinen Wunsch zu glauben auf den Gipfel trieb.
Mit Lebensmitteln versorgt überquerten wir die Rue de l’Église.
Welch ein Glück dabei zuzusehen, wie Clara ging, wie sie sich durch den Raum bewegte, so körperlos und fleischlich zugleich, die langen Beine, ihr helles Haar, das bei jedem Schritt wippte, die Schultern nur einen Hauch stärker gebräunt als der übrige Körper, ein Meisterwerk beweglicher Harmonie, als wäre sie auserwählt worden, den Wesen eines anderen Planeten die Vollkommenheit des menschlichen Gangs hinsichtlich Mechanik und Anmut vorzuführen, in jedem Augenblick natürlich und doch auch überraschend wie ein Flusslauf, wie das Wachstum einer Pflanze oder wie ein Musikstück, dessen Verkörperung sie wäre und das sich nun sichtbar in der Zeit abspielen würde, Melodie, Verzierungen, Akkorde.
Wir stiegen die linke Seite der Rue de l’Église hinauf (die Marktgeräusche verebbten), legten ein paar Dutzend Meter zurück (ich ließ drei Erdbeeren fallen, sie blieben im Staub liegen, was soll’s), dann bogen wir rechts in die breite, von zahlreichen Bäumen gesäumte Impasse du Midi.
Es war, als beträte man ein...