Das Fenster zum Universum - Eine kleine Geschichte der Geometrie

Das Fenster zum Universum - Eine kleine Geschichte der Geometrie

von: Leonard Mlodinow

Campus Verlag, 2002

ISBN: 9783593369310

Sprache: Deutsch

311 Seiten, Download: 5919 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

geeignet für: Apple iPad, Android Tablet PC's Online-Lesen PC, MAC, Laptop


 

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Das Fenster zum Universum - Eine kleine Geschichte der Geometrie



15 Ein Napoleonischer Held (S. 121-122)

Am 23. Februar 1855 lag der Mann, der den Angriff gegen Euklid führte, alt und um jeden Atemzug kämpfend in seinem kalten Bett. Sein Herz brachte das Blut kaum mehr in Umlauf, und die Lungen füllten sich mit Flüssigkeit. Mit jedem Herzschlag lief die noch verbleibende Zeit auf Erden ab: Eine Szene, die normalerweise nur einen Romanschriftsteller interessiert.

Ein paar Tage später wurde der alteMann neben seiner Mutter beerdigt. KeinGrabstein zierte die Stelle. In seinemHaus fandman überall Geld versteckt – ein Vermögen, das in Schubladen, Pulte und Schränke gestopft war. Dabei war das Haus bescheiden: In einem winzigen Arbeitszimmer standen ein kleiner Tisch, Schreibpult und Sofa. Es gab nur einen einzigen Leuchter, und das kleine Schlafzimmer war nicht heizbar.

Der Verstorbene war fast sein ganzes Leben hindurch unglücklich und hatte nur wenige enge Freunde. Seine Ansichten über das Leben waren zutiefst pessimistisch. Die Jahrzehnte, die er an der Universität gelehrt hatte, galten ihm als verlorene Zeit voller lästiger, undankbarer Arbeit. In einer Welt ohne Unsterblichkeit sah er keinen Sinn, den Glauben an ein ewiges Leben konnte er aber nicht aufbringen. Er war hoch geehrt worden, und klagte trotzdem, dass »die herben Seiten des Lebens«6 die Freuden hundertfach überstiegen. Als er den Schlüssel für die Revolution gegen Euklid gefunden hatte, wollte er nicht, dass dieÖffentlichkeit davon erfuhr. Für die damalige wie die heutigeWissenschaft ist er – zusammen mit Archimedes und Newton – einer der größten Mathematiker der Menschheitsgeschichte.

Carl Friedrich Gauß wurde am 30. April 1777 in Braunschweig geboren, fünfzig Jahre nach Newtons Tod. Er stammte aus einem armen Viertel einer armseligen Stadt, deren Glanzzeit über 150 Jahre zurücklag. Seine Eltern waren Kleinbürger: Mutter Dorothea konnte weder lesen noch schreiben und arbeitete als Dienstmagd, Vater Gebhard verdingte sich für geringen Lohn in verschiedenen bescheidenen Stellungen, die vom Ausheben von Gräben über dasMauern von Wänden bis zur Rechnungsführung eines Bestattungsunternehmers reichten.

Über die Kindheit von Gauß gibt es viele Anekdoten. Es heißt, er habe schon die Arithmetik beherrscht, bevor er überhaupt reden konnte, und habe einmal als Baby mit dem Finger auf einen Stand mit Esswaren gezeigt und seine Mutter angefleht »Hunger!Will haben!«, um nach dem Einkauf in Tränen auszubrechen, weil er mit Worten nicht ausdrücken konnte, was er bemerkt hatte: Der Händler hatte die Mutter um 35 Groschen betrogen. Die berühmteste dieser Geschichten von der Frühreife des Knaben, die offensichtlich nicht allzu weit von der Wahrheit entfernt liegen, spielt an einem Samstag. Gauß war damals um die drei Jahre alt. Sein Vater zählte den Wochenlohn für eine Gruppe von Arbeitern zusammen. Das Rechnen dauerte eine Weile und Gebhard Gauß registrierte nicht, dass ihm sein Sohn zusah. Nehmen wir an, das Kind wäre ein »normaler«, kleiner zwei- oder dreijähriger Junge gewesen. Der hätte wahrscheinlich ein Glas Milch über die Rechnungen geschüttet und »Milch, will Milch« gebrüllt. Ganz anders Carl, der so etwas sagte wie: »Falsch addiert. Richtig ist . . .«

Weder Gebhard noch Dorothea hatten dem Kleinen gezeigt, wie man addiert, niemand hatte ihm überhaupt irgendetwas anArithmetik beigebracht. Carls Verhalten war so außergewöhnlich und überdurchschnittlich, dass man sich nur wundern konnte. In ihmschien ein böser Geist zu wohnen – wenn nicht der Teufel selbst, dann zumindest ein mehr als zehn Jahre altesKind. Die Elternwaren dergleichen gewohnt, hatte sich doch ihr Sohn auch schon das Lesen selbst beigebracht.

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