Die Jahre aus Blei - Roman

Die Jahre aus Blei - Roman

von: Roberto Cotroneo

Insel Verlag, 2011

ISBN: 9783458744108

Sprache: Deutsch

297 Seiten, Download: 1422 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Jahre aus Blei - Roman



Es war an einem Dienstag, ein paar Minuten vor neun Uhr abends. Am Dienstag, dem 4. Juli. Die Piazza Mattei in Rom lag verlassen da. Wegen der Fußballweltmeisterschaft strebten die wenigen Passanten alle schnell nach Hause: Italien spielte gegen Deutschland. Ich saß in einem Restaurant im Freien, ohne daß mich die Kellner auch nur eines Blickes würdigten. Sie waren alle drinnen und schauten sich die Fernsehbilder aus dem Dortmunder Westfalenstadion an. Die Tische vor mir waren leer. Als ich so wartete, hörte ich Schritte und eine Männerstimme, die sich erkundigte, ob man hier essen könne. Widerwillig bejahte der Kellner dies. Eine Frau sprach leise und lachte. Man wies ihnen einen Tisch nur wenige Meter von meinem entfernt. Ich sah den Mann an und erkannte ihn sofort: Es war Cristiano Costantini, ein Exterrorist. Die Frau saß mit dem Rücken zu mir, doch obwohl ich ihr nicht ins Gesicht sehen konnte, war ich mir sicher, daß sie Giulia Moresco war. Ein Irrtum war ausgeschlossen, in meinem letzten Arbeitsjahr hatte ich Dutzende Photos von den beiden gesehen. Ich hatte unzählige Seiten gelesen, Briefe und alle möglichen Unterlagen.

In dieser unwirklichen Stille mit der Reporterstimme aus dem Fernseher des Restaurants saßen mir zwei Spukgestalten gegenüber. Denn Giulia und Cristiano waren für alle, die sie kannten und suchten, am 21. April 2005 bei einem Verkehrsunfall auf der Strecke Rom-L’Aquila ums Leben gekommen. Das Auto war ausgebrannt, und auf Giulias Identität war man gekommen, weil der Wagen gemietet war. Was Cristiano anging, bestand für die Polizei kein Zweifel daran, daß es sich um ihn handelte, obwohl die Leichen nicht identifiziert werden konnten.

Am 25. April, vier Tage nach dem Unfall, erhielt ich einen Anruf von einer mir unbekannten Frau, von Stefania, Cristianos Schwester. Sie sagte, sie wolle mich treffen, bevor sie nach Südafrika zurückkehre, und verabredete sich in einer Kaffeebar an der Piazza Trilussa mit mir. Sie kam mit einer Aktenmappe voller Papiere, die sie mir mit der Bemerkung aushändigte, ich solle das alles lesen und sie danach anrufen.

Im letzten Jahr habe ich mich mit nichts anderem beschäftigt, habe den Roman, an dem ich schrieb, liegenlassen und bin um die halbe Welt gereist, um Bewegungen nachzuvollziehen, Bestätigungen zu finden und zu verstehen, was Cristiano und Giulia zugestoßen war. Doch bereits Ende Juni beschloß ich, damit aufzuhören. Diese Geschichte ließ sich nicht erzählen. Und in zu viele dunkle Aspekte ihres Lebens konnte ich einfach kein Licht bringen.

Bis der Zufall es wollte, daß ich sie nun plötzlich vor mir sah. Ich schaute sie unentwegt an, stand aber nicht auf, um zu ihnen zu gehen. Das konnte ich natürlich nicht. Der Kellner brachte ihnen zwei Vorspeisen und eine Flasche Wasser. Keine halbe Stunde später gingen sie wieder. Ich stand auf, ohne zu zahlen. Ich wollte ihnen folgen, doch sie waren bereits im Gewirr der kleinen Straßen rings um die Piazza verschwunden. Noch in derselben Nacht sortierte ich die letzten von Stefanias Unterlagen und wußte, daß ich keine Wahl mehr hatte: Ich mußte die Geschichte von Giulia und Cristiano erzählen. Wenn sie noch am Leben waren, während alle sie für tot hielten, stimmten die Vermutungen und die unerklärlichen Fakten, auf die ich gestoßen war, wohl tatsächlich.

Trotzdem ließ ich sämtliche Notizen und die vielen Tonbänder lange in der Schublade, da ich nicht wußte, was ich damit anfangen sollte. So wie ich auch nicht wußte, was ich mit dem Manuskript des mysteriösen Mannes tun sollte, der der Drahtzieher und vielleicht auch der Ideologe dessen gewesen war, was man noch immer als die Strategie der Spannung bezeichnet. Im Laufe der Zeit dachte ich, es könnte der Stoff für einen geschichtlichen Essay oder für ein journalistisches Sachbuch sein.

Ich habe lange gezögert, dieses Manuskript ungekürzt und unverändert zu veröffentlichen. Doch inzwischen habe ich nicht mehr den geringsten Zweifel: Wahrscheinlich ist es der aufschlußreichste Bericht über eine Zeit in Italien, die nie bis ins letzte erforscht worden ist.

Cristianos Schwester Stefania ist es zu verdanken, daß es mir gelang, einige historische Puzzleteile zusammenzusetzen, die zunächst keine logische Verbindung zu haben schienen. Und obwohl Schmerz und Erschütterung ihn dünnhäutig und dann krank machten, hat auch Giulias Mann Daniele Proietti mir geholfen, die Welt seiner Frau zu rekonstruieren, soweit es die Jahre ihrer Ehe betraf.

Im Rahmen der Möglichkeiten habe ich auch versucht, die wahre Identität und Geschichte des Mannes herauszufinden, den Cristiano als Professor Italo bezeichnete. Erst vor kurzem ist es mir gelungen, die Adresse im Marais in Erfahrung zu bringen, wo er jahrelang gewohnt haben soll. Was wirklich an dem Tag geschah, als Cristiano ihn zum letzten Mal in seiner Wohnung aufsuchte, ist eines der Rätsel dieser Geschichte, ebenso wie die Originaldokumente von Aldo Moro, die wieder spurlos verschwunden sind.

Sicherlich hätte ich diese Seiten schon viel früher fertiggestellt, wenn es mir gelungen wäre nachzuvollziehen, was an jenem Vormittag in Paris geschah. Doch diesbezüglich könnte nicht einmal Cristiano zu einer zuverlässigen Rekonstruktion beitragen. Ich habe niedergeschrieben, was ich weiß. Und oft habe ich sogar gezweifelt, ob es Professor Italo überhaupt gegeben hat. Folglich kann ich auch seinen Tod nur bezweifeln. Zwar war es Professor Italo, der zunächst die Flucht und später die Rückkehr Cristianos nach Europa organisierte und der auch Giulias erste Schritte in Paris verfolgte. Doch je mehr ich recherchierte, desto öfter stand ich vor verschlossenen Türen und sah mich der offenen Feindseligkeit der französischen Polizei und Behörden gegenüber sowie der vieler italienischer Emigranten, die noch in Paris leben.

Zu diesem und anderen Punkten erfuhr ich auch von der Frau, die sich Francesca nennen ließ, kein einziges Wort. Ich habe nur einmal an ihrer Tür geklingelt, und da wurde ich aufgefordert, zu gehen. Später sagte man mir, sie sei weggezogen, habe eine andere Wohnung und sei unauffindbar. Da war es schon leichter, Cristianos Zeit in Argentinien zu rekonstruieren. Obwohl ich gerade in diesem Land wiederholt Drohungen erhielt, so daß ich Buenos Aires früher verlassen mußte als geplant. Übrigens hatte ich nichts in der Hand, was ich geltend machen konnte. Aus Cristiano Costantini war Osvaldo Fresedo geworden, ein argentinischer Staatsbürger, der seine Vergangenheit ausgelöscht hatte.

Man möge mich in Zukunft nicht nach Dingen fragen, die über das hinausgehen, was ich hier zu berichten weiß. Ich könnte so gut wie nichts mehr hinzufügen. Doch eines möchte ich nun, da ich diese Seiten in Form eines Romans aus der Hand gebe, klar und deutlich sagen. Seit ich mit der Niederschrift dieser Geschichte begonnen habe, erscheint mir die Welt in einem anderen Licht. Doch mit aller Kraft habe ich mich dagegen gewehrt, mich von Verschwörungstheorien verleiten zu lassen.

Man hat mir abgeraten, mich gewarnt und mir oft erklärt, es sei reine Zeitverschwendung, diese Jahre noch einmal zu durchleuchten: Da gebe es nicht mehr viel zu erfahren. Man sagte, unser Land habe sich verändert, das sei doch alles nur Schnee von gestern. Man sagte, vielleicht sei ja Schweigen das beste Mittel, um die lange Zeit der Gewalt und der Gegensätze zu überwinden. Ich habe mich bemüht, alle anzuhören, doch überzeugt haben sie mich nicht.

Nach der Lektüre dieser Seiten werden viele Leser gewiß noch mehr Informationen über Giulia suchen. Ich habe alles gelesen, was ich über sie finden konnte. Doch Giulias öffentliches Leben, insbesondere in der besseren Gesellschaft, darf nicht als Widerspruch zu dem erscheinen, wie sie wirklich war. Die Klatschseiten im Internet, die Photos in den Illustrierten, die prominenten Freundschaften sind eine notwendige Ergänzung zu allem, was später geschah.

Giulia hat bis zum Schluß versucht zu vergessen und sich eingebildet, es sei ihr gelungen, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Sie war nicht die leichtfertige, mondäne Person, für die man sie halten könnte. Im Grunde stand sie für ein Italien, das sich eben nicht verändert, sondern die Widersprüche lediglich übereinandergeschichtet hat, die letztlich nur zu dem düsteren, ausweglosen Land führten, in dem wir nun leben, einem Land, das niemandem eine Zukunft zu verheißen scheint.

Giulias Ehemann Daniele versicherte mir stets, nie von der dunklen Vergangenheit seiner Frau gewußt zu haben. In den letzten Monaten, in denen die Krankheit ihm noch erlaubte, mich zu treffen und mit mir zu reden, versuchte er nach Kräften, mich davon zu überzeugen, daß Giulias Rolle in der Geschichte des italienischen Terrorismus vollkommen belanglos gewesen war. Diese oberste Schicht ihrer Persönlichkeit war für mich schwerer zu durchdringen, als ich erwartet hatte.1

Bei Cristiano war das anders. Ich beschloß, mit der Erzählung seiner Geschichte an dem Punkt zu beginnen, da er Giulias Paket erhielt, das Paket mit dem Bandoneon und dem Manuskript. Heute weiß ich, wie Cristiano dachte und urteilte, zumindest bis er nach Paris zurückkehrte, ich weiß es, weil seine Schwester Stefania alle seine Briefe aus jenen Jahren noch immer aufbewahrt. Mir war klar, daß sie mir nicht gestatten würde, auch nur eine Zeile aus diesen Briefen zu veröffentlichen, ich kann es ihr nicht verdenken. Ich habe Cristianos Sprache so klar und...

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