Ukraine verstehen - Geschichte, Politik und Freiheitskampf

Ukraine verstehen - Geschichte, Politik und Freiheitskampf

von: Steffen Dobbert

Klett-Cotta, 2022

ISBN: 9783608119718

Sprache: Deutsch

208 Seiten, Download: 3956 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Ukraine verstehen - Geschichte, Politik und Freiheitskampf



5. Vermächtnis der Kosaken: Kleine Geschichte über Mut


Roman Nowosolow steht am Rand der Straße M10, die vom Grenzort Krakowez nach Lwiw führt. Er trägt einen kleinen grauen Rucksack auf dem Rücken und streckt seinen rechten Daumen zur Fahrbahn. Als ich im März des Jahres 2022 mit dem Auto von Polen in die Ukraine fahre, bemerke ich ihn erst im letzten möglichen Augenblick. Mein Kopf ist noch leicht verwirrt, da ich einige Hundert Meter zuvor einen toten Schäferhund am anderen Straßenrand liegen gesehen habe. Ob es ein zurückgelassenes Haustier einer Flüchtlingsfamilie war?

Roman Nowosolow, ein hagerer Mann mit einem schmalen Gesicht, steigt ein. Er erzählt, wie er kurz vor unserem Aufeinandertreffen noch mit Freunden von Freunden seiner Mutter in einem anderen Auto gesessen habe. Die Familie habe ihn nach Polen mitnehmen wollen. Doch nach der Passkontrolle der ukrainischen Grenzbeamten haben nur der Vater, die Mutter und ihre drei Kinder weiterfahren dürfen. Er nicht.

Als Reaktion auf den Einmarsch der russischen Truppen von Norden, Osten und Süden in die Ukraine dürfen laut Gesetz Männer mit ukrainischem Pass im Alter von 18 bis 60 Jahren, die weniger als drei Kinder haben, ihr Land nicht mehr verlassen. An den Grenzübergängen zu den westlichen Nachbarländern Polen, Slowakei, Ungarn, Rumänien und der Republik Moldau werden deshalb Züge und Autos angehalten und Männer zurück ins Land geschickt.

Wegen dieses Gesetzes hat der 21-jährige Roman Nowosolow vor kurzem also zum zweiten Mal die Chance verpasst, den Krieg in seinem Land hinter sich zu lassen. Das erste Mal, so erzählt er während der Fahrt, die uns an Männern mit Kalaschnikows und Jagdgewehren vorbei weiter ins Landesinnere bringt, sei er bereits in Kyjiw gestoppt worden, durch sich selbst.

Es war am Tag drei der Kriegseskalation gewesen, als er oder zumindest seine Mutter einen Plan hatte. Gemeinsam waren sie zum Bahnhof gefahren. Mutter und Sohn wollten zusammen in einem Evakuierungszug von Kyjiw nach Warschau reisen. Vor seinem Informatikstudium in der ukrainischen Hauptstadt hat Roman Nowosolow eineinhalb Jahre in der polnischen Stadt Lublin studiert. Er spricht Polnisch und kennt sich in dem EU-Land einigermaßen aus. Aber als er die überfüllten Waggons, die vielen Frauen und Kinder sah, das Geschrei hörte, wollte er sich plötzlich nicht ins Gewühl am Bahnsteig drängen. Er blieb stehen. Seine Mutter fuhr ohne ihn ab. Und bevor ihr Waggon den Kyjiwer Bahnhof verließ, bat sie ihn, auf einem anderen Weg ins sichere Polen zu kommen.

Eigentlich möchte Roman Nowosolow es nun, nach dem gescheiterten zweiten Versuch im Auto der Familie, noch einmal per Zug über die Grenze versuchen. Er habe gehört, dass die Grenzbeamten in manchen Zügen, die von Lwiw oder Ternopil abfahren, nicht jeden Waggon durchsuchen. So sagt er es, während wir einen weiteren Checkpoint passieren, an dem Männer mit Helmen und misstrauischen Blicken kontrollieren, wer ein russischer Spion sein könnte und wer auf dieser Straße Richtung Ternopil weiterfahren darf.

Am nächsten Tag wache ich neben Roman Nowosolow in einem Hotel auf, das in einer Zeit erbaut wurde, als es die Sowjetunion noch gab. Er liegt in seinem Bett, die Decke über den Kopf gezogen. Ich höre im Nebenzimmer eine Familie, die mit ihrer Katze aus dem Osten des Landes hierher nach Ternopil geflohen ist, schaue auf mein Handy und sehe ein Video, das mir Roman Nowosolow von einem Freund weitergeleitet hat. Es sei in Tschernihiw, einer 300 000-Einwohner-Stadt, fast so groß wie Ternopil, aufgenommen worden, schreibt der Freund.

Man sieht, wie jemand über einen Parkplatz geht und mit seinem Handy filmt.

Man sieht ein brennendes Haus, Rauch, zerbröselte Betonwände.

Man hört, wie eine männliche Stimme hinter der Kamera »Apotheke! Apotheke!« brüllt und damit offenbar das in Trümmern liegende Geschäft vor unseren Augen meint.

Man sieht, wie er weitergeht.

Man sieht, wie vor ihm drei Menschen auf dem von Schutt bedeckten Boden liegen.

Man sieht, dass einer Leiche ein Bein fehlt.

Man sieht, dass der anderen Leiche ein Fuß fehlt.

Man sieht Blutflecken auf Asche.

Man sieht, dass auch der dritte Mensch sich nicht mehr bewegt. Sein Gesicht liegt in der Asche.

Man sieht ein altes Ehepaar, sie mit Krückstock. Beide müssen den Zweiten Weltkrieg noch miterlebt haben, den Einmarsch von Hitlers Armee in die Ukraine, den Einmarsch von Stalins Armee in die Ukraine.

Man sieht, wie das Ehepaar langsam an den Toten vorbeigeht.

Ich putze meine Zähne, wünsche Roman Nowosolow einen guten Morgen und ziehe die Vorhänge des Fensters auf. Unten, neben dem Parkplatz des Hotels, sehe ich einen Spielplatz mit zwei Schaukeln, die bunt gestrichen sind. Davor in einem Vorgarten steht ein weißes Schaukelpferd neben Blumenbeeten, in denen in den nächsten Wochen die Frühblüher erwachen, normalerweise.

Die Nacht war unruhig. Stundenlang waren die Sirenen des Bombenalarms zu hören gewesen, doch beim Blick auf die Häuser der Stadt ist jetzt kein einziger Einschlag zu erkennen. Über den Dächern Ternopils schimmert die Sonne durch eine Wolkenschicht. Roman Nowosolow hebt seinen Kopf. Er sagt, in einen Zug nach Polen könne er sich immer noch setzen.

Wir gehen zusammen zum Einkaufszentrum um die Ecke, warten, bis die ersten Sirenen dieses Tages verstummt sind, setzen uns in ein Café neben dem Einkaufszentrum, bestellen Tee, Kaffee und zwei Toast Ukraina – warme, mit zerlaufenem Käse, Pilzen und Zwiebeln gefüllte Sandwiches. Dann fahren wir in einen Vorort von Ternopil, der Petrykiw heißt, stoppen an einem Checkpoint, steigen aus und kommen mit Fedir Kalinowsky ins Gespräch. Er habe Freunde in Deutschland, sagt Kalinowsky und zeigt auf sein fast fertig gebautes Eigenheim die Straße runter.

Null oder ein Grad Celsius, gerade noch warm genug ist es, damit der Boden unter uns nicht gefriert. Während Kalinowsky mit uns über den Acker neben der Straße geht, bleibt bei jedem Schritt etwas Matsch an seinen Stiefeln kleben. Das Wetter interessiert Kalinowsky dieser Tage allerdings nicht besonders, sofern es nichts über die Fortbewegungsmöglichkeiten von Panzern verrät. Kalinowsky achtet auch nicht besonders auf die Schneeflocken, die vom Himmel fallen. Aber die Kälte, sie ist da. Sie breitet sich ganz allmählich von Fuß bis Kopf im ganzen Körper aus. Kalinowsky, ein großgewachsener Mann mit dunklem Vollbart, trägt deshalb eine dicke, khakifarbene Multifunktionshose, eine dazu passende gesteppte Jacke, eine Weste, die mit Taschen für Granaten ausgestattet ist, und Stiefel.

Aus der Ferne könnte man diesen Kalinowsky in seinem Militäroutfit und mit seiner Figur – er war in seiner Jugend Karatekämpfer – für einen Soldaten einer modernen Armee halten. Eines der beiden Maschinengewehre, die er sich in den vergangenen Wochen von seinem Geld gekauft hat, liege im Auto, das er am Rand des Feldes geparkt habe, sagt er. Das andere, größeres Kaliber, mit Schalldämpfer, sei zuhause bei seiner Frau, die seit einigen Tagen damit das Nachladen übe.

Kalinowsky, 37 Jahre, geboren in Ternopil, zwei Söhne, elf und fünf Jahre alt, steht jetzt auf diesem mit Schneeflocken bepuderten Acker, etwa 200 Meter vor dem Haus mit roter Klinkerfassade, in das er einmal einziehen möchte. Roman Nowosolow, 16 Jahre jünger, geboren in Kyjiw, keine Kinder, steht neben ihm, in Turnschuhen. Seine Hände hat er in den Taschen seines Anoraks vergraben, die Kapuze über seine Ohren gezogen. Auf seinen Schultern trägt er den Rucksack, der so klein wie eine Tüte aus dem Supermarkt wirkt. Alles, was Roman Nowosolow seit seiner Flucht aus Kyjiw noch besitzt, befindet sich darin – eine Jogginghose, zwei Unterhosen, drei T-Shirts, drei Paar Socken, sein Laptop, seine Zahnbürste und ein alter Camcorder.

Roman Nowosolow ist unbeabsichtigt per Anhalter in dieses Buch geraten, so unbeabsichtigt wie er mit seinen 21 Jahren in diesen Krieg und hierher nach Ternopil geraten ist. Darum steht er mit seinem Hab und Gut nun neben dem uniformierten Kalinowsky. Während er Kalinowsky zuhört, schaut Roman Nowosolow ohne erkennbaren Gesichtsausdruck, irgendwie leer, durch seine schmalen Augen. Sein Blick wandert übers Feld in die Ferne und dann auf den Schützengraben vor uns.

Nachbarn von Kalinowsky haben das Erdloch vor wenigen Tagen mit einem Radlader in den Acker gegraben. Auf den Boden der etwa zweieinhalb mal fünf Meter großen und fast zwei Meter tiefen Grube haben sie Europaletten gelegt, nicht wegen der EU-Symbolik, sondern wegen des Matsches darunter. An einem Rand des Grabens haben sie weiße Sandsäcke abgelegt, jeder groß...

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