Brasilien - Land der Gegenwart

Brasilien - Land der Gegenwart

von: Verena Meier

Rotpunktverlag, 2013

ISBN: 9783858695802

Sprache: Deutsch

272 Seiten, Download: 2828 KB

 
Format:  EPUB

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Brasilien - Land der Gegenwart



Einleitung


Brasilien ist ein großes Land. Seine Flagge trägt eine gelbe Raute auf grünem Grund, in deren Zentrum das Firmament mit den Sternen der Bundesstaaten und der Leitspruch »Ordnung und Fortschritt« vereinigt sind. Sie weht für eine Nation, die im 21. Jahrhundert zur aufstrebenden Wirtschaftsmacht und zu einem wichtigen globalen Player wird. Brasilien ist im Aufbruch. Die reichen Rohstoffvorkommen und die Produkte des weiten Landwirtschaftslands sind zu Ressourcen geworden, die auf dem Weltmarkt zunehmend nachgefragt werden. Der politischen und wirtschaftlichen Stabilisierung und breit angelegten Sozialprogrammen ist es zu verdanken, dass immer mehr der 190 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer am wachsenden Wohlstand teilhaben können. Luiz Inácio Lula da Silva, 2003 bis 2010 Präsident von Brasilien, steht symbolisch dafür, dass es mit großen Anstrengungen möglich ist, Armut und Elend zurückzulassen. Lula, wie er sich später nannte, musste als Kind mit Schuhputzen und Botengängen zum Einkommen der Familie beitragen. Er arbeitete sich bis zum Präsidenten hoch. Seine Regierung hat Unterstützungsprogramme lanciert, die Millionen der ärmsten Familien im ganzen Land ein minimales Einkommen garantieren, mehr Kinder in die Schulen holen, Gesundheitsdienste und Wohnverhältnisse verbessern. Es ist ihm gelungen, Dynamik in den großen Binnenmarkt zu bringen und Arbeitsplätze zu schaffen. Dilma Rousseff, seine Nachfolgerin, führt die Politik und die Programme fort. In einem Land, in dem so viele Menschen lange mittellos waren, ist der Aufholbedarf enorm. Die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen boomt, neue Rohstoff- und Landressourcen werden erschlossen. Ein schlafender Riese ist erwacht.

Der Aufbruch ist sichtbar. In den Städten, von Fortaleza im Norden bis Porto Alegre im Süden, schießen Wohn- und Geschäftstürme in die Höhe, Reihenhaussiedlungen breiten sich aus und neue Shoppingcenter gewaltigen Ausmaßes öffnen ihre Tore. In Rio de Janeiro werden Favelas, große städtische Armutssiedlungen, die bis jetzt nur über enge, steile Gassen zugänglich waren, mit Liften und Seilbahnen ausgestattet. Straßenbaustellen ziehen sich quer durch das Gewirr der improvisierten Behausungen. Doch nicht nur in den großen Städten und an den Küsten wird gebaut, auch das Hinterland wird weiter erschlossen. Zum Beispiel bei Manaus, mitten im Amazonasgebiet, wo sich seit 2011 eine dreieinhalb Kilometer lange Brücke über den mächtigen Rio Negro schwingt. Der neue Zugang soll helfen, die zuvor entlegenen Gebiete besser an Absatzmärkte für die Landwirtschaft anzubinden und touristisches Potenzial zu entwickeln. Am Rio Xingu, einem weiter östlich gelegenen Zufluss des Amazonas, haben die Bauarbeiten für das Belo-Monte-Stauwerk begonnen – es wird das drittgrößte der Erde sein. Besondere Schaustücke auf dem Weg dieser Entwicklung sind die Anlagen für zwei große Sportanlässe, die Fußballweltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Sommerspiele von Rio de Janeiro 2016. Viele Brasilianer sind stolz, bei diesen Spielen Gastgeber zu sein. Das Land will der Welt zeigen, was es zu bieten hat: nicht nur modernste Stadien und Verkehrsinfrastruktur, sondern auch die besten Spieler und ein wunderbares Publikum, das verrückt ist nach seinen Stars und weiß, wie Feste zu feiern sind.

Der Blick hinter die Kulissen zeigt, dass der Boom einen Preis hat. So werden für die neuen Bauten Wohngebiete geschleift und Bewohner vertrieben. Die Sportpaläste verschlingen Gelder, die anderswo dringend gebraucht würden. Die großflächige Exportlandwirtschaft, die kräftig mithilft, den Wohlstand zu finanzieren, schädigt das größte Regenwaldgebiet der Welt massiv. Rohstoffextraktion und gesteigerte Energieproduktion gefährden Lebensräume. Beim Belo-Monte-Staudamm ist die ansässige Bevölkerung mit ihren jahrelangen erbitterten Protesten, die von Menschenrechtsaktivistinnen und Umweltschützern aus Brasilien und der ganzen Welt unterstützt wurden, den Energieproduzenten und ihrer politischen Lobby unterlegen. Klientelismus und Korruption, alte Laster des Systems, sind nach wie vor präsent, auch die Regierung Lula erwies sich nicht als immun. Der Blick hinter die Kulissen zeigt aber auch, was gute Politik tatsächlich verändern kann, zum Beispiel, wenn eine Favela dank der Präsenz von besser geschulten, gemeinschaftsorientierteren Polizeieinheiten nicht länger von den permanenten Schusswechseln der Drogenbanden terrorisiert wird. In den Favelas Cantagalo-Pavão-Pavãozinho in Rio de Janeiro spielen die Kinder wieder Fangen in den Gassen. Auf die Mauern von Häusern und Höfen haben Künstler und Künstlerinnen große Bildergeschichten gemalt, die zeigen, wie die ersten Bewohner einst mit ihrem kleinen Bündel und großen Hoffnungen vom Land in die Stadt gekommen sind, wie sie erste Hütten bauten und Wasser auf den Hügel schleppten, später mit ihren Häuserburgen den Stadtteil aufbauten. So gibt sich die Gemeinschaft eine Geschichte und eine zunehmend selbstbewusste Identität. Und wenn im heruntergekommenen Hafengebiet von Santos die Tochter der Hausangestellten mit Englisch- und Computerkenntnissen neuen Berufsoptionen entgegensteuert, so ist das Grund für Hoffnung und Stolz.

Carolina, die Mutter aus Santos, die mir von den neuen Berufsperspektiven ihrer Kinder erzählte, habe ich im Dezember 2012 getroffen. Das war auch die Zeit, als Kulturvermittler Sidney mir das Open-Air-Museum und die Gassen der Favelas hoch über den Stränden von Ipanema und Copacabana zeigte. Ich sah das Kommen und Gehen der Leute zur Bäckerei und zum Geschäft mit den Baumaterialien. Ich staunte über den roten 24-Stunden-Bankomaten neben der Vitrine mit den goldgelben Hühnern am Grillspieß. Einen Bankomaten in einer Favela hätte ich mir zehn Jahre früher, bei meinem ersten Besuch in der Stadt, nicht vorstellen können. Damals, im Frühjahr 2003, hatte Präsident Lula gerade erst die Macht übernommen. Die Stimmung war zuversichtlich. In den gekühlten Räumen von Petrobras, der staatlichen Erdölfirma, und des Centro Internacional de Negócios CIN, des internationalen Wirtschaftszentrums, sahen wir Grafiken zur Entwicklung eines Landes, das im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts mit großen Schwankungen bei Wachstum und Einkommen und bis zu vierstelligen Inflationsraten zu kämpfen hatte. Doch jetzt, im neuen Jahrtausend, nach der geglückten Stabilisierung der Währung und mit zukunftsversprechender Politik – links, aber doch pragmatisch –, sollte alles besser werden. Ich besuchte Filmaufnahmen in den Studios des Globo-Medienkonzerns. Es wurde mir klar, dass das brasilianische Publikum emotionsgeladene Dialoge mit viel Lokalkolorit, gespielt vor Kulissen einer US-amerikanischen Konsumwelt, liebt. Diskussionen in einer Privatklinik im Süden von Rio de Janeiro führten mir vor Augen, dass die medizinische Versorgung in Brasilien sehr gut sein kann. Allerdings war schnell berechnet, dass Leute mit einem für Brasilien durchschnittlichen Einkommen nicht die Möglichkeit haben, solche Leistungen in Anspruch zu nehmen. Um ein anderes Brasilien kennenzulernen, besuchte unsere Studiengruppe in Salvador da Bahia die Nähwerkstatt einer Armensiedlung am Rand der Stadt. Barbara, die vor Ort für verschiedene Hilfswerke arbeitete, hatte dies organisiert. Wir erreichten die Favela nach einer langen Fahrt über eine Straße, die nach einem heftigen Gewitterregen kaum passierbar war. In den schlichten Räumlichkeiten der Werkstatt waren Frauen aus dem Viertel an alten Nähmaschinen am Kleidernähen. Wie sie uns erzählten, waren sie glücklich, etwas zu verdienen, zusammenzukommen und dazuzulernen. Wieder im Zentrum der Stadt, sahen wir eine Capoeira-Vorführung, Kampfsport und Tanz in afrobrasilianischer Tradition, und besuchten das Training der jungen Athleten. In einem Restaurant wurden wir von Lernenden etwas ungelenk, aber enorm charmant bedient. Nähatelier, Capoeira-Ausbildung und Gastronomie-Schule, das waren von Hilfsorganisationen unterstützte Projekte, die Menschen aus Armutsvierteln eine Chance geben wollten, eine Ausbildung zu bekommen und Einkommen zu generieren, Talente und Selbstbewusstsein zu entwickeln.

Ich hatte in Kolumbien gelebt und gearbeitet, kannte andere lateinamerikanische Länder. So kam mir vieles vertraut vor, allem voran die Offenheit und Freundlichkeit der Leute und ihre Geschicklichkeit, mit Unvorhergesehenem umzugehen, die Wärme. Im Materiellen sind die großen Unterschiede zwischen Arm und Reich, die Differenz zwischen den Luxusresidenzen der Oberschicht und den prekären Behausungen der Armutsviertel, nicht zu übersehen. In Brasilien war alles, was ich bis jetzt kannte, potenziert: der enorme Luxus in den größten Shoppingcenter, die schier unzähligen Favelas mit Hunderttausenden von Bewohnern und das wenig erschlossene Hinterland, in welchem möglicherweise noch Völker leben, die noch nie Fremden begegnet sind. Dann gab es etwas, das mich besonders faszinierte: die Brasilianer und Brasilianerinnen, die ich kennenlernte, die Geschäftsleute, die Wissenschaftlerinnen, die Lehrer, die Ärztinnen, die Näherinnen, die überzeugt waren, im besten Land der Welt zu leben. Auch wenn sie mir...

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