Acht Tage bis Montag

Acht Tage bis Montag

von: Emil Hakl

Braumüller Verlag, 2015

ISBN: 9783992001231

Sprache: Deutsch

216 Seiten, Download: 912 KB

 
Format:  EPUB

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Acht Tage bis Montag



SARGWEITWURF


Kája, am Montag Party im Lokál, gehst du mit?, schreibe ich und drücke auf Senden.

Hab nichts dagegen, lautet die Antwort. Wer kommt alles?

Keine Ahnung. Ich geh hin, sag Hallo zu Matěj und Kryštof und dann sehen wir weiter.

Kann nur sein, dass du wieder zu Kryštof sagst: Hallo Matěj.

Die Triebwerke sind schon an, ich muss Schluss machen.

Guten Flug!

Als wir uns auf Reiseflughöhe vorgekämpft haben, hole ich mein Buch aus der Tasche, versuche mich reinzulesen.

Hanns Martin Schleyer verankert sich in den Sechziger- und Siebzigerjahren vor allem mit seiner harten Haltung gegen die Gewerkschaften im Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit. Geboren wird er 1915 in Offenburg. Nach seinem Jurastudium tritt er 1933 der SS bei und vier Jahre später der NSDAP. Dort macht er Karriere, die ihn bis nach Prag führt. 1943 staubt er den Posten des Leiters des Präsidialbüros beim Zentralverband der Industrie für Böhmen und Mähren ab.

Tief unter der Hinterkante des Flügels schimmert die Wasserglätte. Herman Melville, Karel Zeman, Jules Verne, Arthur Gordon Pym, der Schwarze Korsar plus Taucherepen von irgendeinem Russen (der submarine Rotarmist schmetterte alles beiseite, was ihm unter Wasser in die Quere kam: germanische Torpedos, Minen, elektrische Aale, weiße Panzerkreuzer) – das waren grundlegende Begegnungen. Andererseits träume ich immer wieder, wie ich in die Tiefe sinke, das Licht verliere, den Sauerstoff, den Verstand. Das Bewusstsein erlischt langsam, es zerfließt. Das Meer sehe ich als Grab.

Nach dem Krieg verbringt Schleyer ein paar Jahre in Internierungslagern in Baden-Württemberg. Aber schon 1951 fängt er beim Autobauer Daimler-Benz an und steigt relativ schnell in den Vorstand auf. Zusätzlich hat er mehrere Posten in Unternehmerverbänden inne. Woraufhin er 1973 Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände wird. Für die RAF ist er die Personifizierung all dessen, was sie hasst. Sie sieht ihn als idealen Entführungskandidaten. Diese faltige, dicke Quappe mit Augen, die schon so manches gesehen haben.

Warum ich mich damit befasse? Wie das halt so kommt … Ich habe einen Film gesehen, wo die meisten Schauspieler viel zu dick aufgetragen haben, und trotzdem hat er mir einen Floh ins Ohr gesetzt.

Es folgt der Text eines Briefes, den Schleyer am 8. 9. 77 aus der Haft an seinen Sohn schreibt. Lieber Eberhard, im Geist bin ich immer bei Euch. Gesundheitlich geht es mir gut, aber über das, was draußen passiert, werde ich von meinen Entführern nur unzureichend informiert. Jedenfalls will ich sagen, dass es keinen garantierten Schutz gegen jemanden gibt, der so konsequent arbeitet wie die RAF. Ihre Aktivitäten werden von den zuständigen Organen falsch eingeschätzt. Sie werden sich, wenn ihre Forderungen abgelehnt werden und sie mich liquidiert haben, ein neues Opfer suchen. Sie suchen das Risiko nicht, aber sie fürchten es auch nicht.

Er irrt sich nicht, bleibt nicht das letzte Opfer. Er ist aber auch nicht das erste. Am Morgen des 7. April fährt der Generalbundesanwalt Siegfried Buback mit dem Dienstwagen in sein Büro im Bundesgerichtshof. Mit ihm ein Fahrer und ein Justizbeamter. Ein Motorrad nähert sich der Limousine, auf ihm zwei Personen. Eine zückt ein MG und feuert das Magazin ins Wageninnere ab.

Der Airbus beginnt mit dem Sinkflug, die Buchstaben hüpfen vor meinen Augen. Laut den Terroristen trägt Buback die direkte Verantwortung für den Mord an Ulrike Meinhof, Holger Meins und Siegfried Hausner. Sein Tod bedeutet einen Bruch – das Jahrzehnt des unschuldigen konspirativen Schiffeversenkens ist zu Ende.

Ich komme aus dem Terminal, suche eine Verbindung in die Stadt. Ich bin hier, um eine halbe Stunde herumzuquaken. Tschechische Kulturzentren, Beamte, Stiftungen, Sektionen, Verleger & Co. müssen ab und zu so ein Häufchen Elend ans Tageslicht zerren, das sich ein Sakko überwirft und in die Hölle hineinwankt. Dort pfeffert es eine halbe Stunde lang gequirlte Kacke ins Publikum, bleibt über Nacht und fährt wieder. Letzten Endes haben die das Recht, zu sehen, in wen sie da ihre Anstrengungen investiert haben. Das ist ihr Job.

Das also erwartet mich morgen, heute habe ich frei. Übermorgen und überübermorgen auch. Das Kulturministerium scheut in dieser Hinsicht das Gepränge nicht. Nonchalant buchen sie dort die teuerste Verbindung und stopfen Spesen für vier Tage in die Taschen eines Soziopathen, der am liebsten nur anreisen, „bl-bl-bl“ ins Mikrofon machen und wieder die Kurve kratzen würde.

Was immer nur mein erster Impuls ist. Anschließend gebe ich mich dem zügellosen Beobachten der Menschenmenge hin. Löse mich in ihr auf. Gehe durch diese unbekannte Megalopole. Der bittere Geruch von Nadelbäumen, fremd duftender Smog. Ausbrüche von Sonnenplasma, unterbrochen von Geißeln aus Regen.

Mir entgegen kommen im Gladiatorschritt Burschen wie Baumstämme – Haarknoten, Leder, Stahlringe in der Nase, im Mund, Bärte bis zum Bauch, Wrestler oder so. Schwadronen solide gekleideter Riesen. Sonnengegerbte Senioren. Seltsam bartlose Zweimetergreise mit Zylinder. Horden ernster Schülerinnen. Ein erheblicher Prozentsatz bestechend schöner Frauen, bei denen unsereiner aus der Haut fahren würde. Schlank, stabil gebaut, einen halben Kopf größer. Auch reichlich breitgesichtige Opis. Sabbernde Irre, Pfeifer, Murmler, die niemand bei ihrer Darbietung stört. Und natürlich bettelnde Familien, die auf den Fußwegen kampieren, Verirrte, Orientalen, professionelle Arme, ausgebuffte Gauner, schmuddelige Proletarier, keifende Weiber, Gnome in dunklen Ecken.

Ich setze mich völlig fertig in ein Café. In der Ecke unter einem Fenster surren ein paar PCs. Ich frage, ob ich darf. Sie nicken, ja, das stehe für mich zur Verfügung.

Evžen?, schreibe ich und drücke auf Senden.

Bin da.

Was machst du?

Sargweitwurf. Gas geben mit dem Rechtspfeil, bremsen mit der Leertaste auf dem rosa Asphalt, den Sarg musst du so weit wie möglich werfen. Probier mal und gib Bescheid.

Ich klicke auf den Link, den er mitgeschickt hat, nehme ein paarmal mit dem Auto Anlauf, werfe, antworte: 746,8 m, weiter geht nicht, vielleicht haben die hier schlechtere Software.

Du musst die Tasten schnell und mit kurzen Bewegungen drücken und alles gut koordinieren, schreibt er. Probier noch mal.

752,2 m, keinen Furz weiter.

Wichtig ist: schnell auf 120 kommen, halten und KURZ VOR DER WAND bremsen. Werfen musst du impulsiv.

Impulsiv habe ich 778,8 m weit geworfen.

Siehste, schöne Leistung, hier in der Firma sind Leute, die kommen nicht über 700. Wir glauben, die besten Rekorde müssen von mehreren gemacht werden. Einer gibt Gas, der Zweite bremst, der Dritte feuert an. Meine persönliche Bestleistung ist 895,4 m. Ein neues Tattoo hab ich auch.

Wichtiger, als kurz vorher zu werfen, schreibe ich, ist meiner Meinung nach, den Sarg so rauszubefördern, dass er eine Flugbahn in möglichst hohem Bogen beschreibt, d. h. der Hauptfaktor ist das ruckartige Bremsen bei max. Tempo. Was für ein Tattoo?

Ich wollte ein aztekisches Relief, ich sitz auf dem Stuhl, erledigt von der Arbeit, es zwiebelt auf dem Arm, ich schlaf trotzdem ein, dann wach ich auf und hab auf dem Bizeps einen Panda. Wie das geht, weiß ich auch nicht, also zahl ich lieber und verschwinde … Du, aber je eher ich werfe, desto niedriger der Bogen. Das heißt eindeutig, ich muss den Abwurf so spät wie möglich machen. Typischer Fehler: Ich drück fett auf die Tube, halte, aber ich hau das schon in der Mitte vom Rosa weg, deswegen flieg ich niedrig und komm nicht über 600.

Ich schreibe: Verbesserungsvorschlag: In dem Moment, wenn du wirfst, losbrüllen wie vor einem Karateschlag, damit konzentrierst du die Energie, was ich hier allerdings nicht machen kann, aber versuch du es mal.

Red keinen Scheiß, der Chef würde durch die Decke gehen. In der Mitte vom Rosa ist auf jeden Fall zu zeitig! Näher an der Wand! Wollen wir?

Na gut.

Ich drücke Evžen in die Taskleiste weg, klicke mit der rechten Hand wie ein Epileptiker.

831,3 m, schreibe ich.

Ich hab 882,4! Neuer Trick: Bis 100 drücke ich mit rechts, dann weiter mit der erholten linken Hand, mit rechts greif ich über die linke Hand, Abwurf. Ich muss was arbeiten. Bist du in ein, zwei Stunden noch online?

Ja.

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