Trennungsfamilien - lösungsorientierte Begutachtung und gerichtsnahe Beratung
von: Jörg Fichtner
Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2015
ISBN: 9783840925177
Sprache: Deutsch
229 Seiten, Download: 3028 KB
Format: PDF, auch als Online-Lesen
2 Wandel der Familie und Veränderungen des Familienrechts (S. 7-8)
2.1 Individualisierung, Pluralisierung und Planungszumutung
Selbstverständlich sind Trennungen von (Ehe-)Partnern, gerade im Beratungsprozess, zunächst als individuelle Krisen zu sehen, die in aller Regel mit Enttäuschungen und Erschütterungen bei beiden Partnern einhergehen. Vom großen, meist aus Liebe entstandenen, Projekt einer gemeinsamen Familiengründung ist häufig nur noch der Wunsch geblieben, endlich Ruhe vom anderen zu haben und sein eigenes Leben leben zu können.
Doch gerade aus einer systemischen Perspektive sind Liebe, Partnerschaft, Ehe, Familie, aber auch Trennung, Scheidung, der Streit um Geld und Besitz und vor allem Auseinandersetzungen um die Kinder und um die Frage, was gut für diese sei, immer auch als individuelle Reaktionen auf gesellschaftliche Wertvorstellungen und deren Wandel zu sehen. Während noch vor 50 Jahren Ehe und Familie wie unerschütterliche Säulen der deutschen Gesellschaft schienen und die Scheidungsziffern so niedrig waren wie die Bereitschaft, den ewigen Ehebund leichtfertig zu lösen, wird es heute zunehmend begründungsbedürftig, warum man eine Ehe aufrechterhält, zu der offensichtlich bessere Alternativen bereitstehen. Der Hintergrund ist eine zunehmende Individualisierung, in der jeder sein Glück selbst in die Hand nehmen kann, aber vor allem auch muss. Bereits in den 80er Jahren formulierte der Soziologe Ulrich Beck die Entscheidungszumutung, mit der grundsätzlich jeder konfrontiert ist: „In der individualisierten Gesellschaft muss der Einzelne entsprechend bei Strafe seiner permanenten Benachteiligung lernen, sich selbst als Handlungszentrum, als Planungsbüro in Bezug auf seinen eigenen Lebenslauf, seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften usw. zu begreifen“ (Beck, 1986, S. 217). Arbeitsplätze, Berufe, Wohnorte, Residenzländer, Partnerschaften und auch Ehen sind nicht mehr auf Dauer angelegt, sondern können oder müssen neu gewählt werden, wenn die individuelle Bilanz nicht mehr stimmt. Lediglich in Bezug auf die Kinder besteht auch oder gerade in der individualisierten Gesellschaft sogar der zunehmend juristisch verbürgte Anspruch, diese Bindungen zumindest ein (Kinder-)Leben lang aufrechtzuerhalten. Ein wenig scheint es so, als ob der Gesetzgeber zunehmend dort für Kontinuität sorgen muss, wo das System oder die Institution „Familie“ diese schon längst nicht mehr garantieren 2.1.1 Tradition, Liebe und Pluralisierung von Familie Unter den Stichworten „Pluralisierung“ oder „Krise der Familie“ werden bereits seit den 90er Jahren gesellschaftliche Veränderungen beschrieben, die den Bedeutungsverlust der traditionellen Kleinfamilie mit Kindern und einer eindeutigen Geschlechterrollenzuschreibung gegenüber anderen Partnerschaftsformen konstatieren. Alleinerziehenden, unverheirateten Paaren, kinderlosen Ehepaaren oder Singles wird seit den 90er Jahren eine Normalität zugesprochen, die für eine Generation davor noch undenkbar gewesen wäre.
So konnten bereits Ende des letzten Jahrtausends gravierende Veränderungen seit den 60er Jahren festgestellt werden, die als Ausdifferenzierung privater Lebensformen im Allgemeinen und des familialen Zusammenlebens im Besonderen beschreibbar sind. Soziodemographisch ließ sich der Wandel festmachen an Geburtenrückgang, gesunkener Heiratshäufigkeit und steigenden Scheidungsziffern, die seitens der Familiensoziologie als „Attraktivitäts-, Stabilitäts- und Leistungsverluste des herkömmlicherweise einzigen Familientypus“ interpretiert wurden (Kaufmann, 1992, S. 400). Der traditionell selbstverständliche Zusammenhang von „Liebe – Ehe – Elternschaft – gemeinsame Haushaltsführung – exklusive Sexualität – Mann als Ernährer und Familienoberhaupt“ wurde unverbindlich und lockerte sich auf. Jede einzelne Komponente konnte negiert oder mit anderen kombiniert werden, ohne dass eine solche Lebensform ihre Realisierungsberechtigung verlor (Beck, 1990). Grundlagen für diese Veränderungen bildetet das Zusammenspiel mehrerer Faktoren in den späten 60er Jahren: Im Anschluss an die wirtschaftliche Expansionsphase nach dem Zweiten Weltkrieg wurden finanzielle Abhängigkeiten von familialer Versorgung verringert; im Zuge der Bildungsexpansion wurden besonders Frauen besser ausgebildet und konnten stärker qualifizierte Berufstätigkeit als Alternative zur Mutterschaft in ihre Lebensplanung mit aufnehmen. Die Verbreitung der „Pille“ und die veränderten Vorstellungen von Sexualität durch den reformatorischen Aufbruch der Studentenbewegung entkoppelten Sexualität, Partnerschaft und Mutterschaft. Diese Erweiterungen des Handlungsspielraumes nutzte besonders die neue Frauenbewegung zur Infragestellung tradierter Geschlechterrollen. Biographien wurden damit individueller gestaltbar und die Familie verlor ihren Monopolanspruch in der Lebensplanung. Soziologisch ging mit diesem Bedeutungsverlust eine Deinstitutionalisierung von Ehe und Familie einher, was zu erhöhten Anforderungen an jeden Einzelnen führt, sein eigenes Familienmodell zu konstruieren. Lebensläufe wurden zu „Wahl- oder Bastelbiographien“ (vgl. Beck & Beck-Gernsheim, 1990), das Individuum wurde gezwungen, die eigene Identität selbst zu konstruieren, sich Normen zu setzen, die es selber (für sich) als richtig und angemessen einschätzt. kann.