Buch der Wolken

Buch der Wolken

von: Chloe Aridjis

Edition Nautilus, 2017

ISBN: 9783960540328

Sprache: Deutsch

208 Seiten, Download: 1014 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Buch der Wolken



11. August 1986, Berlin


Ich sah Hitler zu einer Zeit, da der Reichstag wenig mehr war als ein schattenhaftes Gerippe seines früheren Selbst und das Brandenburger Tor den Durchgang versperrte, anstatt ihn zu gewähren. Es war ein Abend, an dem die moralischen Überreste der Stadt auftauchten und wie Treibgut dahinglitten, bevor sie wieder auf den Meeresboden herabsanken, um weiter zu zerfallen und zu verrotten.

Berlin war die letzte Station auf unserer Europa-Reise – wir hatten uns aus Spanien durch Frankreich, Belgien und die Niederlande hochgearbeitet –, bald würden wir nach Hause fliegen, zurück über den Atlantik, um mit dem neuen Schuljahr zu beginnen. Meine beiden Brüder, die noch immer vor Energie strotzten, beschwerten sich wegen des bevorstehenden Abschieds. In jeder kleinen und größeren Stadt hatten sie die Nacht durchgemacht und waren bis zum Frühstück nicht zurückgekehrt. Wann immer jemand einen Kommentar darüber abgab, dass das Geld für Hotelzimmer für sie eine Verschwendung war, antworteten sie in launischer Einsilbigkeit zwischen zwei Schlucken Kaffee. Meine zwei Schwestern dagegen, die von Geschichten und Souvenirs schier erdrückt wurden, wollten dringend Ballast abwerfen. Auch meine Eltern fühlten sich erschöpft und waren bereit für die Heimreise. Nicht zu vergessen, dass sechzig Prozent des Geldes, das wir gerade von meinem Großvater geerbt hatten, aufgebraucht war, und die übrigen vierzig waren angeblich auf die Seite geschafft worden für unseren stetig wachsenden Feinkostladen.

An unserem allerletzten Abend kündigten unsere Eltern nach einem frühen Abendessen an, dass sie uns zu einer Protestdemonstration gegen die Berliner Mauer, die fünfundzwanzigjährige »Ikone des Kalten Krieges«, mitnehmen würden. Wo auch immer man in Berlin hinging, stieß man früher oder später darauf, selbst an dem Tag, als wir die Hansa Studios besuchten, wo Nick Cave und Depeche Mode Platten aufnahmen, oder den Secondhandladen, wo Kleider kiloweise verkauft wurden. Ganz egal wohin man ging, ob Osten, Westen, Norden, Süden, früher oder später traf man auf den störrischen Zement-Vorhang, und es ging nicht weiter. Das war jedenfalls unser Eindruck, und so stellten wir uns vor, dass auch wir gegen dieses scheinbar endlose Gebilde protestieren könnten, das selbst unsere Bewegung einschränkte, auch wenn wir lediglich sieben Touristen waren, die die Stadt zum ersten Mal besuchten.

Als wir die Demonstration erreichten, hatten sich bereits Tausende Leute westlich des Brandenburger Tors versammelt, junge Paare, alte Paare, herumhüpfende Kinder, Punks mit Hunden, Gruftis, Frauen mit Stoppelfrisuren, Männer in blauer Arbeitskleidung – im Rückblick ein Querschnitt dessen, was West-Berlin in jenen Tagen ausmachte. Die meisten Leute blieben stehen, aber es gab auch große Gruppen, die sich auf den Gehwegen ausbreiteten, sangen, Sprechchöre anstimmten und Bierflaschen kreisen ließen. Wir hatten gehört, dass sich in der vorletzten Nacht eine Menschenkette entlang der Mauer gebildet hatte mit dem Ziel, die ganzen 155 Kilometer zu umfassen.

Indes marschierten auf der östlichen Seite Männer in grauen Uniformen und mit Stahlhelmen die Karl-Marx-Allee auf und ab. Ich malte mir ein drastisches Aufeinandertreffen von Metall und Fleisch aus, von Ordnung und Chaos, von Gleichförmigkeit und Vielfalt, doch wusste ich, dass diese Aufeinandertreffen im realen Leben weit abstrakter waren. Meine Eltern hatten uns über die Grenze mitnehmen wollen, um uns »ein wahres Porträt des Kommunismus« vor Augen zu führen, aber es hatte ein unerklärliches Problem mit unseren Visa gegeben, sodass wir die ganze Woche über im Westen geblieben waren und uns so gut wir konnten ausmalen mussten, wie das Leben auf der anderen Seite wohl aussähe, zunehmend fasziniert von den Begriffen »diesseits« und »jenseits«.

Immer noch kamen Leute. Das Singen und Skandieren wurde lauter. Ich konnte kaum hören, wenn jemand aus meiner Familie sich vorbeugte, um etwas zu sagen, als ob unsere Sprache in jener Nacht ausgesetzt worden und das Deutsche das einzige Kommunikationsmittel wäre. Doch es gab andere Wege, seine Stimme zu erheben, und binnen kurzem hatten wir uns der Kette angeschlossen, die sich an der Mauer in die Länge zog. Ich umklammerte die Hand eines Mannes mit Pferdeschwanz und schwarzer Lederjacke, bis einer meiner Brüder darauf bestand, den Platz mit mir zu tauschen. Ich versuchte, mir die Tausenden von Menschen quer durch West-Berlin vorzustellen, mit denen wir durch diese Geste der Solidarität verbunden wären, aber der Gedanke war schwindelerregend, sodass ich stattdessen mein Augenmerk auf die Punks richtete, die in der Nähe mit ihren Hunden spielten, indem sie etwas warfen, das aussah wie zerrupfte Tennisschuhe, wonach die Hunde rannten, um es wieder zurückzubringen. Dann warfen die Punks den Köder in eine andere Richtung. Hin und wieder ging ein Wurf fehl und traf jemanden am Kopf oder an der Schulter, ein Anblick, der lautes Gelächter auslöste.

Die Dämmerung brach herein. Manche der Organisatoren bahnten sich einen Weg durch die Menge und verteilten weiße Kerzen. Viele Leute lehnten ab und machten stattdessen ihre Feuerzeuge an. Angesichts des Lichtermeeres wirkte der Reichstag noch bedrückender, noch verlassener, und das Brandenburger Tor mit seiner Siegesgöttin und seinen zwölf dorischen Säulen sah aus, als sei es durch die Abenddämmerung doppelt zum Schweigen gebracht. Nicht weit von uns sprang ein alter Punk mit einer Taschenlampe auf die Mauer und schrie ein paar Worte in den Osten hinüber, wütende Worte, obgleich wir nicht verstehen konnten, was er sagte. Auf der anderen Seite, erzählte uns meine Mutter, würden unsichtbare Augen jede einzelne seiner Bewegungen verfolgen. Niemand schien sich drüben in den Wachtürmen zu befinden, und doch stellten wir uns Männer mit Rundmützen und katzenhaften Augen vor, die das ganze Spektakel überwachten, jederzeit bereit zuzuschlagen, sollte jemand von uns auch nur einen Zoll weit auf ihr Gebiet vordringen.

Wir blieben auf der Demonstration, bis die Kerzen heruntergebrannt waren, das Benzin in den Feuerzeugen ausging und alle Stimmen heiser wurden, bis unsere Armbanduhren Mitternacht anzeigten, die Leute ihr Zeug zusammenpackten und sich auf den Weg machten. Wir folgten unseren Eltern die Straße hinunter, und viele weitere Straßen hinunter, in die Richtung, die scheinbar jeder einschlug. Es war unmöglich, ein Taxi zu finden. Wir würden die U-Bahn nehmen müssen, und so stiegen wir zusammen mit Horden von anderen an der Station Gleisdreieck hinab wie ein kreischendes achthundertköpfiges Monster.

Die ungestüme Menge machte es unmöglich, in Reichweite der Fahrkartenautomaten zu gelangen, daher stiegen wir bei der Einfahrt des nächsten Zuges ein, ohne bezahlt zu haben. Wir spürten, dass in dieser Nacht alles erlaubt war. Der Waggon war vollgestopft mit Hunderten von Menschen. Sich auch nur umzudrehen war unmöglich, und durch die Hitze fühlte sich mein Pulli allmählich an wie eine Zwangsjacke. Es gab aber kaum genug Platz, ihn auszuziehen. Nachdem ich am Reißverschluss gezogen und erfolgreich einen Arm befreit hatte, bemerkte ich, dass meine Familie am anderen Ende des Wagens stand; in dem Trubel mussten wir durch verschiedene Türen eingestiegen sein, und jetzt waren Dutzende von Leibern zwischen uns, das war allerdings nicht so schlimm, da ich wusste, wo ich aussteigen musste. Wie in einer bizarren kubistischen Anordnung sah ich nur Kanten und Bruchstücke ihrer eckigen Gesichter, die Lippen meiner Mutter, die Nase meines Vaters, das Haar meiner Schwester. Ich erinnere mich noch, wie ich damals dachte, dass dieses Amalgam, ein aus beliebigen Teilen jedes Einzelnen zusammengewürfeltes Mischwesen, um ein Vielfaches attraktiver gewesen wäre als jenes komplizierte Sechs-Personen-Paket, an das ich mein Leben lang gebunden war.

Der Zug setzte seine Fahrt fort, und ich fing an, die in der Nähe sitzenden und stehenden Passagiere in Augenschein zu nehmen. Es herrschte allgemeine Heiterkeit im Waggon, und allmählich hatte ich das Gefühl, mich in einer Art Vogelhaus zu befinden, wenngleich es mit weniger exotischen Spezies bevölkert war als die, die wir zu Hause hatten. Gruppen großer schwarzer und grauer Vögel mit blonden Büscheln lachten und erzählten Witze, während schmuddelige braune Vögel mit gesträubtem Gefieder mit Bierflaschen herumfuchtelten. Ernste Vögel lasen die Abendzeitung, andere krächzten über Kreuzworträtseln, und die kleinsten Vögel, von denen es nur wenige gab, piepsten gelegentlich, als ob sie sich der Hierarchie zwar bewusst, aber unsicher wären, wie sie daran teilhaben sollten. Dann bemerkte ich einen Vogel, einen mit ungewöhnlichem Gefieder, der, anders als die anderen, scheinbar nicht die Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte. Direkt vor mir saß eine sehr alte Frau, fast ein Jahrhundert alt, würde ich sagen. Sie trug ein Kopftuch, das eine breite Stirn umrahmte, die einem wütenden Planeten gleich hervorlugte. Sie hatte tief liegende dunkle Augen und ein viereckiges Gesicht mit Hängebacken, das auffallend...

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