Quendel  (Quendel, Bd. 1)

Quendel (Quendel, Bd. 1)

von: Caroline Ronnefeldt

Verlag Carl Ueberreuter, 2018

ISBN: 9783764192167

Sprache: Deutsch

448 Seiten, Download: 2008 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Quendel (Quendel, Bd. 1)



Zweites Kapitel


Der Finster


Man muss den dunklen, oft grausigen Skog (Wald) kennen, dieses meilenweit ununterbrochene chaotische Gemisch von Laub- und Nadelholz, von Felstrümmern und umgestürzten Baumstämmen und einem Stein und Stock pilzartig überwuchernden Teppich von Moos und niederem Pflanzengestrüpp, der die Kleider und die Haut zerreißt und ein Vordringen unmöglich macht.

PAUL HERMANN

Die Wiese senkte sich sanft bis zum Waldrand. Bullrich kam es so vor, als blühten hier weniger Blumen als auf der Grünloher Seite des Heckenweges. Auch die Insekten machten sich rar. Jedenfalls sah er hier keinen einzigen der bläulichen Schmetterlinge mehr, die zuvor seinen Weg begleitet hatten, und auch keine Libellen und Hummeln.

»Pah, Zufall«, machte Bullrich sich Mut.

Die Sonne schien nach wie vor von einem wolkenlosen Himmel, aber der mit jedem Schritt näher rückende Waldrand sah deshalb nicht heller aus. Bereits die ersten Baumreihen verschluckten alles Licht des strahlenden Tages. Bullrich dachte an das wenige, das er über den Wald wusste, und stellte fest, dass nichts Gutes darunter war. Etwas Unnennbares lastete über den alten Bäumen, eine undurchdringliche Wetterwand aus Angst und Beklommenheit.

Bullrich biss die Zähne zusammen. Ihm war plötzlich kalt. Tapfer setzte er einen Fuß vor den anderen, denn er spürte, wie die Furcht nach seinem Herzen griff. Als er bis auf fünfzig Schlegel herangekommen war, blieb er stehen und rieb sich mit dem Zeigefinger über den Nasenrücken. Er versuchte angestrengt, aus der Entfernung ins Innere zu spähen, aber er kam damit nicht weit, denn die vordersten der mächtigen Stämme hoben sich kaum von den dahinter stehenden Baumreihen ab. Wirres Unterholz und Gestrüpp verstellten den Blick zusätzlich.

»Bei allen Morcheln, da hast du dir wirklich etwas vorgenommen, Bullrich, alter Schattenbart«, sagte Bullrich laut zu sich selbst und merkte, dass seine Stimme rau und heiser klang.

Die Worte durchschnitten bedenklich das ringsum lastende Schweigen. Der Quendel erbebte und blickte verstohlen von links nach rechts. Einen Augenblick hatte Bullrich das höchst unangenehme Gefühl, dass ihm irgendetwas aus dem Dickicht entgegenstarrte. Er hätte nicht sagen können, was das sein sollte. Vielleicht war es ja nur der Wald selbst, dieser vermaledeite Wald, der so feindselig und abweisend aussah, dass es Bullrich immer unwahrscheinlicher vorkam, an den ersten zottigen Baumriesen vorbei in seinen Schatten einzutreten.

Wenn ihn von dort tatsächlich irgendetwas beobachtete, dann verriet dieses Etwas seine Anwesenheit jedenfalls mit keinem Laut. Kein Tritt auf einen dürren Ast, kein Rascheln im trockenen Laub erreichte Bullrichs gespitzte Ohren. Es war still, ganz still.

Bullrich verbot sich, »totenstill« zu denken, und dachte es dennoch.

›Ein Wald, der es freundlich mit einem meint, würde mehr Geräusche haben‹, überlegte er.

Tatsächlich vermisste er nicht nur den aufmunternden Gesang der Vögel, sondern alle vertrauten Laute, die man für gewöhnlich in der Nähe eines Waldes vermuten konnte. Das Rauschen des Windes in den Baumkronen, das tausendfache Rascheln von Blättern und Zweigen oder ein leises Knistern im Unterholz, wenn ein Tier hindurchhuschte. Bullrichs nervös umherschweifender Blick blieb an einer gewaltigen Fichte mit geborstener Rinde und moosbehangenen Ästen hängen. Sie schien ihm unermesslich hoch. Schwindelig konnte es einem werden, wenn man den Kopf in den Nacken legte und den Stamm von der Wurzel bis zur Spitze in Augenschein nahm. Bei kaum einem Baum war es anders. Ob Fichte, Tanne, Buche oder Eiche, alle sahen sie riesig, abweisend und uralt aus.

»Aha, Mischwald«, bemerkte der Quendel und nahm seine Angewohnheit, mit sich selbst zu sprechen, flüsternd auf. Die nüchterne Feststellung blieb unerwidert und Bullrich fand die Kraft, sich ein wenig zusammenzureißen. Er fingerte in seinen Taschen nach Birkenrollen und Holzkohle. »Das lässt sich durchaus von hier aus festhalten. Nur nichts überstürzen, bester Schattenbart«, murmelte er vor sich hin und kritzelte ein paar Notizen auf die erste Rinde.

Hastig blickte er aber sofort wieder auf und suchte den Waldrand aufs Neue ab, ob sich nicht genau in diesem unbewachten Augenblick, als er sich über seine Aufzeichnungen beugte, dort irgendetwas Bedrohliches regte. Alles blieb beim Alten, doch Bullrich war weit entfernt davon, sich beruhigt zu fühlen. Die Angst kletterte aus den lahmen Kniekehlen prickelnd bis in seine Haarwurzeln. Seine sonst so ruhige Hand machte einen krakeligen Schnörkel auf die makellose Silberfläche der Rinde und Bullrich entdeckte fast erstaunt, dass er zitterte.

Es war schrecklich, so ungeschützt und allen etwaigen Blicken preisgegeben, mitten auf der sonnenhellen Wiese zu stehen, wenn etwas ganz in seiner Nähe im Verborgenen lauern mochte. Dort vorne, zwischen den Schatten, ein Schatten selbst womöglich und nichts aus Fleisch und Blut, das sich guten Gewissens ans Tageslicht wagen konnte. Oder war alles Einbildung, die wilde Erfindung seiner angespannten Nerven? Aber in den Wald hinein, allen vermeintlichen Gefahren geradewegs entgegenzulaufen, dazu mochte er sich auch noch nicht entschließen.

Die Zeit verrann in dicken, zähen Tropfen. Es war so still, als wären alle Geräusche ausgestorben. Wie klang das Lied eines Vogels? Wie das Brummen einer Biene im Blütenkelch? Hinter dem Quendel versank die ganze, ihm bekannte Welt und ließ ihn allein mit dem unheimlichen Wald. Seine Hände sanken herab. Achtlos schob er Birkenrinde und Kohle wieder in seine Westentasche zurück. Er konnte nichts weiter tun, als geradeaus zu starren.

Zu Füßen der mächtigen Stämme herrschte ein schier undurchdringliches Dickicht ineinander verhakter krüppeliger Sträucher, darunter lagerten Unmengen von totem Holz. Nirgends zeigte sich eine größere Öffnung, geschweige denn die Andeutung eines Pfads. Dort, nur wenige Schlegel vor ihm, lag eine feindliche Wildnis, über die niemand etwas Genaues wusste, außer, dass es sie gab. Was vermochte sein wertloses Gekritzel gegenüber dieser klaffenden Lücke im Wissen von Zeitaltern auszurichten?

Ihm stand der Sinn immer weniger nach heroischen Taten, aber zugleich war er verdrossen über seine Mutlosigkeit. Dies war kein unbezwingbarer Berg, der nicht bestiegen, kein tiefer See mit tückischen Strudeln, der nicht beschifft werden konnte. Der Finster war ein Wald, in den man eigentlich ganz einfach hätte hineingelangen können, wenn auch mit einiger Mühe. Es war nicht einmal anzunehmen, dass in ihm wilde Tiere hausten, denn irgendwann in all den langen Jahren hätte sich wohl eines zeigen müssen. Kein hungriges Wolfsrudel fand in grimmigen Winternächten den Weg nach Zwölfeichen oder Grünlohe. Kein Drache hatte sich jemals über die Baumwipfel erhoben, um Rabenstein mit Feuer und Rauch zu überziehen. Nicht die leiseste Spur eines Unholds war in der unmittelbaren Umgebung verzeichnet. Keine behaarten Schrate, keine bleichen Mare mit brennenden Augen und dürren Fingern. Es hieß nur, dass in manchen Nächten Irrlichter über dem Schwarzen Schilf bei Wetterstern tanzten. Nichts weiter. Selbst die Sage vom Ästigen Porling verlor sich über dergleichen allenfalls in dunklen Andeutungen. Bullrich ballte die Fäuste.

»Wilde Tiere«, schnaubte er voller Erbitterung gegen sich selbst und alle gegenwärtigen und vergangenen Quendel des Hügellandes. Dann dachte er an die fünf mutigen Wettersterner, die sich einst in den Finster gewagt hatten. Als der verhängnisvolle Nebel aufgekommen war, waren sie bis zu den Löchern gelangt und hatten die Quelle der Pfiffer entdeckt. Ja, der Nebel. Der Nebel und der Finster hatten schließlich die Bitterlinge verschluckt und nicht wieder herausgegeben. Vielleicht mochte Zwentibold deshalb keine unheimlichen Masken, eingedenk dieser alten Geschichte. Er musste sie von Kindesbeinen an unzählige Male gehört haben.

Die Bitterlinge hegten trotz des unglücklichen Ausgangs der Unternehmung einen beträchtlichen Stolz auf ihre tapferen Vorfahren und ehrten das Andenken der toten Helden in ihren Sagen und Liedern. Der Tod der unglücklichen Brüder hatte sich ereignet, als Bullrichs Großvater, Erdmann Schattenbart, ein junger Quendel gewesen war. Bullrich wusste von niemandem, der es danach noch einmal versucht hatte.

Er kam sich winzig und hilflos vor, wie er da vor dem dräuenden Waldrand stand, ein Wicht vor einer Mauer erstarrter Riesen. Vielleicht würden sie sich im nächsten Moment regen, um ihn zu packen, oder auch nur in der ganzen Länge ihrer Aufstellung einen Schritt näher kommen. Er würde sich nun einfach umdrehen und nach Hause stapfen. Er, Bullrich Schattenbart, selbst ernannter Kartenzeichner aus Grünlohe, wagte auch nicht, was Hunderte vor ihm unversucht gelassen hatten.

Quendel, diese grünen Tröpfe,
Seht, sie stecken...

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