Vom Tod zum Morgen (German)

Vom Tod zum Morgen (German)

von: Thomas Wolfe

OTB eBook publishing, 2019

ISBN: 9783965370937

Sprache: Deutsch

272 Seiten, Download: 765 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Vom Tod zum Morgen (German)



Keine Tür


Es ist wunderbar, mit welcher Begeisterung und Wärme wohlgehegte Leute, die nie im Leben allein gewesen sind, Dich zu den Freuden der Einsamkeit beglückwünschen können. Ich weiß, wovon ich rede; ich habe sehr viel allein gelebt, mehr als irgend jemand, den ich kenne, und eine Zeitlang war ich auch mit ein paar Wohlgehegten bekannt. Und die leidenschaftliche Sehnsucht dieser Leute nach dem einsamen Leben ist erstaunlich. Abends lassen sie sich heimfahren; sie fahren hinaus auf ihre feinen Landhäuser, wo Frauen und Kinder begierig auf sie warten; oder sie fahren heim in ihre Stockwerkwohnungen in der Stadt, wo mit duftendem, gesalbtem, verführerischem Körper, mit dem Lächeln der Zärtlichkeit und der Umarmung der Liebe eine schöne Gattin oder eine reizende Freundin sie erwartet. Und all das gilt nicht mehr als eine Handvoll kalten Staubs, Asche und ein wenig Schlacke.

Manchmal lädt Dich einer von diesen Leuten zum Nachtessen ein. Dein Gastgeber ist ein Gentleman von gefälligem Äußeren; er ist sechsundvierzig, sein Haupthaar lichtet sich schon ein bißchen, er macht den Eindruck von gesunder Ründe und Wohlgenährtheit, aber es ist nichts Plumpes oder Grobsinnliches an ihm. In der Tat, er ist ein sehr ästhetisch aussehender Millionär. Zwar ist sein Gesicht groß und voll, aber die feinfühlige Verständigkeit wohnt in den Zügen. Die Manieren dieses Mannes sind liebenswürdig und voll leiser Zurückhaltung. Sein Lächeln ist ein wenig traurig, aber ein ironisch-launiger Humor spielt matt hinein, und es ist ganz so, als hättest Du da jemanden vor Dir, der die Herzensnöte, die Hoffnungen und die qualhafte Lebenswut der Jugend durchlitten hat und nun weiß, was man vom Leben erwarten soll, einen Menschen, dessen »Lider etwas gemüdet« sind, der sich geduldig ins Schicksal ergeben hat und dabei nicht allzu bitter empfindet.

Trotzdem, so arg unsanft ist das Leben mit unserm Gastgeber gar nicht umgegangen. Ruhevoll ringsum stehen die sichtbaren, kostspieligen Beweise seines ungeldlichen Interesses für köstliche Dinge. Der Mann wohnt im Dachgartenstockwerk eines Hochhauses in der Nähe des East River; seine Wohnung ist mit letzter Kennerschaft in einem ruhigen, erlesnen Geschmack eingerichtet; er besitzt mehrere Plastiken von Jacob Epstein, und darunter ist eine Bildnisbüste, die der Bildhauer vor zwei Jahren von Deinem Gastgeber gemacht hat, als dieser, wie er Dir sagt, »mal drüben in England« war. Außerdem hat er eine herrliche Bibliothek, seltne Drucke und Erstausgaben, und nachdem Du diese Schätze liebhaberisch bewundert hast, tretet Ihr zusammen hinaus aufs Dach, um die Aussicht zu genießen, besonders den Blick, den man von dort auf den Strom hat.

Es wird schnell Abend, die hohen, beschlagnen Gläser in Euren Händen machen ein leises, angenehmes Tinketinke, und die große Stadt grellt da vor Euerm Blick: – furchtbar ragen die Schauseiten der sternwärts emporgerißnen Türme, und nun sind sie wie ein Vorhang mit den Diamantpollen von einer Million Lichter übersät, und hinter den Türmen ist die Sonne untergegangen, und die Abendröte liegt auf dem Strom, und dort siehst Du Boote und Schlepper und Barken fahren, siehst Du frohlockend die flügelhaft beschwingten Brücken, und die Nacht ist da, und dort sind Schiffe, – dort sind Schiffe, – und in Dir ist ein wildes unerträgliches Verlangen, das Du nicht aussagen kannst.

Wenn Ihr dann wieder ins Zimmer eintretet, kommt es Dir vor, als wärst Du sehr weit weg von Brooklyn, wo Du wohnst. Dir ist zumut, als wäre all das, was Du als Kind (damals, als Du New York noch nicht gesehn hattest und kanntest) von der Weltstadt geträumt hast, nicht nur möglich, sondern gerade am Wahrwerden.

In allen seinen Zauberfarben brennt Dir das Wahrbild der Stadt im Herzen, und es ist ganz wie jenes, das Du als Zwölfjähriger geschaut hast. Nun, meinst Du, könne es jede Minute Dein werden, jenes glanzvolle, ruhmreiche, herrlich-sieghafte Los, das Du Dir damals erträumt hast. Nun, meinst Du, wird es geschehn, daß Du Deinen Platz einnehmen kannst unter den großen Männern und den liebenswerten Frauen in einem Dasein, das schicksälig schöner und glücklicher ist als irgendein Dir bekanntes. Nun, spürst Du, ist alles irgendwie da und wartet auf Dich; es ist bloß drei Zentimeter weit weg, wenn Du danach greifst, bloß ein Wörtchen weit weg, wenn Du das Wörtchen sprichst, bloß eine Wand, eine Tür, einen Schritt weit weg, falls Du den Zugang weißt.

Und irgendwie erwacht die alte, wilde, wortlose Hoffnung wieder, daß Du den Zugang findest, jene Tür, durch die Du eintreten kannst. Du denkst, dieser Mann, Dein Gastgeber, wird Dir Bescheid sagen. Die Luft, die Ihr atmet, ist ja geladen mit der drohenden Erregung des unmöglich guten Geschehns. Es drängt Dich also, diesen Mann nach dem Geheimzauber zu fragen, der seinem Leben soviel Macht, Überlegenheit und Behagen verliehen hat, der ihm die ganze Roheit des Daseinskampfes, den Schmerz und das Häßliche, die Wut, den Hunger und die Wanderschaft fernzuhalten scheint. Du meinst, der Mann könne es Dir sagen, könne Dir den Geheimzauber kundtun, – aber er sagt Dir nichts.

Und dann kehrt auf einen Augenblick das alte, unerforschliche Geheimnis von der Zeit und der Stadt zurück und überrennt Dein Bewußtsein mit dem gräßlichen Gefühl des Besiegtseins und des Ertrinkens. Du siehst Deinen Gastgeber, seine Geliebte und all Deine andern Großstadtbekannten als Gestalten von todloser Helle, aber Leben und Zeit dieser Gestalten sind Dir fremder als ein Traum, und Du kommst Dir vor, als wärst Du dazu verdammt, unter ihnen zu wandeln wie ein Schatten, der nie imstand sein wird, ihr Leben zu fassen, sich ihre Zeit anzueignen. Dir erscheint ein Leben, das Du nie begreifen, dem Du nie näherkommen, auf das Du Dich nie einstellen kannst. Dir erscheint eine Welt von Geschöpfen, die ohne Seelenqual und Verdrüsse zu leben lernten, Dir erscheint eine Rasse von Großstädtern, die nie in den Dimensionen Deiner Zeit gelebt haben, – nie in den nach Minuten, Stunden, Tagen und Jahren meßbaren Spannen, sondern in den Ausdehnungen einer unergründlichen und undenklichen Sensation, so, daß dieser Leute nur gedacht werden kann in einem Augenblick ihres Lebens, der neuntausend Begeisterungen zurückreicht, der vor zwanzigtausend Rauschnächten war, der achthundert Abendgesellschaften, vier Millionen Grausamkeiten, neuntausend Treubrüche oder Ehrbarkeiten, zweihundert Liebschaften her ist, – Dir erscheinen also Menschen, deren Dasein ein fabulöses, grauenhaftes Sensationsalter annimmt, eine Wesenheit, die keinerlei Jugend kennt, die sich keiner Unschuld entsinnt, die Dich so bedrängt, daß Du in einer See aus Entsetzen, einem Meer aus blinder, unberechenbarer, unausdenklicher Zeit zu ertrinken glaubst. Da gibt's keine Tür.

Mittlerweile, leicht-bitter und ironisch lächelnd, hat sich Dein Gastgeber abermals einen guten, tüchtigen Schuß ehrlichen Roggenwhiskys auf die Eissplitter in seinem hohen, dünnwandigen Glas gegossen, und nun bringt er das Glas grüblerisch-genüßlich an die Lippen, und nach zwei oder drei andächtigen Schlucken fängt er an und spricht ein wenig kummervoll von dem Los, das ihm das harte Schicksal zuerkannt hat.

Während seine Geliebte, die so hübsch am Rand des prallgepolsterten Lehnstuhls sitzt, ihm mit ihren kühlen, feinen Fingern leis über die heruntergerunzelte Stirn fährt, während nebenan sein guter Kammerdiener Ponsonby oder Kato ihm ruhig alles zurechtlegt, so daß er ›sich schnell für den Abend umziehen‹ kann, starrt Dein Gastgeber düster vor sich hin, und schließlich, bitter lächelnd, beglückwünscht er Dich zu dem huldreichen Geschick, das Dir verstattet hat, allein im Armenierviertel von South-Brooklyn zu leben.

Nun, allein in South-Brooklyn leben, sagst Du, hat seine Schattenseiten. Das Zimmer, in dem Du wohnst, hat genau das Format eines Pullmanwagens, bloß ist es nicht ganz so lang und hat nur zwei Fenster, an jeder Schmalseite eins. Das Fenster nach der Straße ist vergittert; die Frau, die Dir das Zimmer vermietet, hat das Gitter dort anbringen lassen, um die Gauner in jener süßen Nachbarschaft vom Einbrechen abzuhalten. Im Winter ist das Gelaß kalt und dunkel, und die Wände schwitzen eine klamme Feuchte aus; im Sommer dagegen bist Du es, der schwitzt, und zwar besorgst Du das gründlich, vollauf genug für jedermann, denn die Bude wird höllisch heiß.

Außerdem – (und hier fängst Du an, Dich für die darstellerische Aufgabe zu erwärmen) – morgens, wenn Du aufstehst, dringt Dir das süße Arom des alten Gowanus-Kanals in die Nase, in den Mund, in die Lungen und in all Deine Gedanken, Tätigkeiten und Worte. Es handelt sich da (wie Du Dich ausdrückst) um einen erhabnen, gigantischen Gestank, eine Ruch-Symphonie, ein betäubendes Orgelgebraus von einem Duft, in dem arglistig-wohlabgestimmt siebenundachtzig Fauligkeiten zusammengetrieben, -gedrückt und -gedrängt sind. Und mit üppiger, ständig wachsender Begeistrung beginnst Du, diese Beitragsdüfte nacheinander aufzuzählen: – die Gerüche von gekochtem Fischleim und verbranntem Gummi, die Nasenwohltat von im Wasser verwesenden Katzen, die Fäulnisparfüme von Kohl, Tomaten und prähistorischen Eiern, die Brenzlichkeit schwelender Lumpen und von Müll, den sanften Sinnenkitzel von einer verreckten Schindmähre und einem toten Skunk und die pestilenzialische Dunstlast von einer verstopften Kloake, und nicht zu verschweigen auch, sagst Du, wäre – –

Aber in diesem Augenblick wirft Dein Gastgeber den Kopf zurück; einen Ausdruck der Verzücktheit auf den Mienen, zieht er lang und tief und begeisternd atmend Luft ein, ganz so, als hätte er bei Deinem Großaufgebot von Düften tatsächlich den Atem...

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