Skandalös - Das Leben freier Frauen. Von Marguerite Duras bis Nina Simone

Skandalös - Das Leben freier Frauen. Von Marguerite Duras bis Nina Simone

von: Cristina De Stefano

btb, 2020

ISBN: 9783641239527

Sprache: Deutsch

192 Seiten, Download: 7044 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Skandalös - Das Leben freier Frauen. Von Marguerite Duras bis Nina Simone



»Komm zu mir / Da ist etwas / Das ich dir sagen muss / und ich kann es nicht sagen«, schreibt sie. Aber auch: »Schwein Amor, sein rosiger Rüssel / wühlt im erotischen Müll.« Sie ist eine der großen Vertreterinnen der modernistischen Literatur, sie spricht von Liebe und Sperma, von Sternennächten und Schleimhäuten, von Speichel und sauren Ausdünstungen und schockiert damit den braven Bürger. Gegen Männer zieht sie mit der Waffe der Ironie zu Felde, sie spottet über ihre Aufgeblasenheit und ihre Marriage boxes, die »Eheschachteln«, in die man sie zwängen will. Sie erfindet die moderne Frau, auch wenn es ihr selbst nicht immer gelingt, diese zu verkörpern, und ohne sich zu scheuen, zahlt sie ihren Preis dafür, lässt sich in all ihrer Widersprüchlichkeit vom Schicksal leiten. Sie sieht umwerfend gut aus, ist weltgewandt und zartbesaitet; sie hat zwei Ehemänner, vier Kinder und zahlreiche Talente, von denen sie mit der Freigiebigkeit einer Königin Gebrauch macht: zunächst als Malerin, dann als Dichterin und schließlich als Designerin kleiner kunstvoller Objekte, mit denen sie hätte reich werden können, stattdessen jedoch – wie stets in ihrem Leben – auch diesmal auf ganzer Linie scheitert.

1882 kommt sie unter dem Namen Mina Gertrude Lowy in London zur Welt. Ihre Eltern könnten unterschiedlicher kaum sein: er, ein aus Ungarn stammender jüdischer Kaufmann mit einer Künstlerseele; sie, eine schlichte, streng religiöse, zur Rettung ihrer Ehre in die Ehe gezwungene Frau. Mit 18 Jahren kann sich Mina dank der Kunst dem Elternhaus entziehen und den Vater davon überzeugen, sie im Ausland studieren zu lassen: 1901 zunächst in München und anschließend 1902 in Paris. Rasch entwickelt sie sich zu einer betörend schönen jungen Frau, die, Tonpfeife rauchend, stets purpurrote Kleider und riesige, von ihr selbst entworfene und genähte Hüte trägt.

Mit 23 Jahren debütiert sie erfolgreich im Salon d’Automne in Paris, doch dann holt sie ihr Schicksal als Frau ein. Von ihrem ersten Liebhaber – dem kleinen, wenig selbstbewussten Stephen Haweis, einem angehenden Maler wie sie – wird sie schwanger und heiratet ihn, um der Schande zu entgehen, obwohl sie nicht im Geringsten verliebt in ihn ist und ihn stets nur »den Zwerg« nennen wird. Der Vater gewährt ihr eine bescheidene finanzielle Unterstützung, der Ehemann nimmt sie, einer Trophäe gleich, überall hin mit und wird nicht müde, sie zu fotografieren: seine zauberhaft schöne Gattin mit dem langen dunklen, zu einem lockeren Knoten gesteckten Haar und den von der Schwangerschaft gerundeten Formen.

Nach einer äußerst schwierigen Geburt – die sie zu dem Gedicht Parturition animiert – ist sie ein Jahr lang glückliche Mutter eines entzückenden Mädchens, bis die Kleine an Meningitis stirbt und sie fast wahnsinnig vor Schmerz zurücklässt. Als sie sich in den Arzt, der sie heilt, verliebt und von ihm schon bald ein weiteres Kind erwartet, bricht es ihr erneut das Herz. Der Geliebte ist bereits mit einer anderen Frau verlobt. Um den Rivalen fernzuhalten, erklärt ihr Ehemann sich bereit, das Kind als sein eigenes anzuerkennen, unter der Bedingung, dass sie mit ihm nach Italien zieht.

In Florenz, das ihr von Anfang an verhasst ist – es ist ihr zu klein und zu klatschsüchtig und voller englischer Ladys –, kommen die außerehelich gezeugte Tochter Joella und wenig später John zur Welt. Ihr Mann hält sie im Haus gefangen, bedroht sie mit der Pistole. Sie fühlt sich wie ein »Einsiedlerkrebs« und beginnt, verrückte Gedichte zu schreiben, wobei sie Versmaß und Reime über den Haufen wirft. Einige Jahre später wird Mabel Dodge, eine reiche Amerikanerin auf Tournee, sie erlösen. Sie verspricht Mina, dass sie ihr bei der Scheidung von ihrem Mann, der immer öfters auf den Spuren von Gauguin im Pazifik unterwegs ist, beisteht, und lädt sie zu sich nach New York ein, nachdem sie die Kinder bei einer italienischen Gouvernante untergebracht hat.

Als Mina Loy 1916 nach New York kommt, steht sie kurz vor dem Durchbruch. Ihre Gedichte erregen großes Aufsehen. Die Männer liegen ihr zu Füßen, bezaubert von ihrem mit rotem Chiffon eingerahmten Dekolleté. Ihre Lesungen sind stets restlos ausverkauft. Man Ray fotografiert sie, Duchamp bittet sie, für seine Gemälde Modell zu stehen. Eigentlich glaubt sie nicht mehr an die Liebe, schreibt über sie als etwas, das ohnehin niemals eintreten wird, doch dann begegnet ihr Arthur Cravan, und sie gibt sich ein weiteres Mal ihrem wechselhaften Schicksal hin.

Cravan ist eine Naturgewalt. Der Boxer, Skandaldichter und stolze Neffe von Oscar Wilde hatte zuvor in Paris eine avantgardistische Zeitschrift gegründet, die er mit einem Handkarren in den Buchhandlungen verteilte. Den Saum seiner Hemden hat er farblich gestaltet, indem er sich bei Delaunay auf den Maltisch setzte. Er entzieht sich dem Wehrdienst und dem Krieg, ist ein ungehobelter Riese, der zu viel trinkt, lautstarke Zoten reißt und immer wieder hinter Gittern landet. Er hat kein Geld, keine eigene Wohnung, er schläft in den Betten seiner jeweiligen Geliebten oder in öffentlichen Parks, aber kaum lernt er Mina Loy kennen, macht er ihr einen Heiratsantrag: »Du solltest mit mir in ein Taxi ziehen. Wir könnten eine Katze halten«, raunt er ihr zu.

Die gemeinsamen Freunde sind aufrichtig erstaunt über das Glück ihrer unglaublichen Verbindung: er, fünf Jahre jünger und von Verehrerinnen umringt – doch »die anderen Frauen sind wie Butter«, sagt er –, sie, in Erwartung der Scheidung und mit zwei in Italien zurückgelassenen Kindern. Ihre Tage verbringen sie im Bett oder mit Streifzügen durch die Museen. »Unser gemeinsames Leben bestand darin, Hand in Hand durch die Straßen zu schlendern. Es war gleichgültig, was wir taten: ob wir miteinander schliefen, ob wir die Schaufensterauslagen der Lebensmittelgeschäfte betrachteten oder an einer Straßenecke etwas aßen. Wir hatten den Quell der Glückseligkeit gefunden«, erinnert sie sich Jahre später. Von den Behörden wegen der alten Wehrpflichtangelegenheit verfolgt, flüchtet Arthur Cravan ohne Papiere nach Mexiko. Sie folgt ihm wenig später und lässt sich von einem zwielichtigen Priester mit ihm trauen.

In Mexiko sind sie glücklich, nagen jedoch buchstäblich am Hungertuch. »Lass uns gemeinsam in den Freitod gehen«, schlägt er ihr eines Tages vom Hunger geschwächt vor. »Wir dürfen nicht sterben«, wendet sie ein, »wir haben noch nicht alles gesagt.« Ab und zu schickt ein Freund etwas Geld, und hin und wieder nimmt Cravan an einem bezahlten Boxwettkampf teil.

Als ihnen klar wird, dass es so nicht weitergehen kann, hecken sie einen aberwitzigen Plan aus, um das Land zu verlassen: Mina, die gültige Papiere hat, soll mit einem Linienschiff nach Buenos Aires reisen, und Cravan soll ihr auf illegalem Weg folgen. Er richtet ein Boot her, belädt es mit Lebensmitteln und Wasser und sticht dann, nachdem er seine Frau zum Abschied leidenschaftlich geküsst hat, in Puerto Ángel für eine Probefahrt in See. Er kehrt nie zurück. Die vor Kummer fast wahnsinnige Mina wird von einem befreundeten Paar gegen ihren Willen auf ein Schiff verfrachtet und nach England zu ihrer Mutter geschickt, um dort Fabienne, die Tochter, die sie von Cravan erwartet, zur Welt zu bringen.

Mina, davon überzeugt, dass ihr Mann noch am Leben ist und ohne Papiere in irgendeinem finsteren südamerikanischen Gefängnis einsitzt, lässt nichts unversucht, ihn aufzuspüren. Erst nach jahrelanger Suche findet sie sich damit ab, dass sie ihn verloren hat. »Wir hätten miteinander leben können / und sprechen, solange es Sprachen gab / um zu sprechen«, schreibt sie in einem ihrer Gedichte. In Florenz trifft sie nur noch Joella an, da ihr Exmann den Sohn John mit in die Tropen genommen hat, der dort kurz darauf stirbt, ohne sie noch einmal in die Arme schließen zu können.

Nach diesem erneuten Schlag zieht Mina, betäubt vor Schmerz, mit den beiden ihr verbliebenen Töchtern durch Europa. Sie gelangt nach Wien, wo sie Freud porträtiert, dann nach Berlin, wo sie bei Archipenko Design studiert und mit einem geheimnisvollen blutjungen russischen Dichter zusammenlebt, der eines Tages so plötzlich, wie er aufgetaucht ist, wieder verschwindet. Schließlich landet sie in Paris, wo sie mit kunstvoll gestalteten Lampenschirmen zu handeln beginnt. Täglich unternimmt sie lange Streifzüge über den Flohmarkt und beschafft Materialien, die in ihren Händen zu bunten, ungeahnten Kunstobjekten werden und bei der Kundschaft großen Zuspruch sowie reißenden Absatz finden. Peggy Guggenheim leiht ihr Geld, damit sie expandieren kann, Joella ist ihre Assistentin, und die kleine Fabienne wächst in der Atelierwohnung in Montparnasse zwischen beweglichen, an der blauen Sternendecke befestigten Pappwänden, Türen aus schimmerndem Glas, Fenstern aus farbigem Cellophan und kleinen Käfigen voller bunt gefiederter Vögel frei wie eine Wilde auf.

Mina setzt ihre Arbeit auch fort, nachdem sie Joella, die einen reichen Kunsthändler geheiratet hat, in die Vereinigten Staaten gefolgt ist. Unermüdlich schreibt sie ihre Erinnerungen nieder, insbesondere die Erinnerungen an die Zeiten mit Cravan, sie entwirft Globen, Weltkarten, Papiersterne, lässt sich ein Spiel zum Erlernen des Alphabets und eine Puppe, die echte Tränen weint, patentieren. Junge Verehrer zollen ihr Bewunderung, so etwa Henry Miller, der oft bei ihr zum Abendessen vorbeischaut, oder Joseph Cornell, der Dichter mit den Schachteln, der sie während ihrer Streifzüge auf der Jagd nach Materialien begleitet.

Sie verbirgt ihren Schmerz hinter provokanten Gedichten, wie dem bekannten The Widow’s Jazz. 1966 stirbt sie unerwartet, nachdem sie dem Altwerden längst schon schonungslos...

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