Die Stille bringt den Tod - Kriminalroman

Die Stille bringt den Tod - Kriminalroman

von: Karin Fossum

Piper Verlag, 2019

ISBN: 9783492994392

Sprache: Deutsch

400 Seiten, Download: 3428 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Stille bringt den Tod - Kriminalroman



Schön war sie nicht, und darüber war sie sich natürlich im Klaren, sie bewegte sich, wie unansehnliche Frauen das meistens tun, mit vorsichtigen Schritten und einem Blick, der um Entschuldigung zu bitten schien. Ohne den Wunsch, Raum einzunehmen, oder die Hoffnung, Eindruck zu machen, dass man ihr glaubte oder sie überhaupt auf irgendeine Weise ernst nahm. Seit weit über vierzig Jahren hatte der Spiegel sich über ihre mangelnde Schönheit geäußert, und sie hatte den Kopf gesenkt und dieses Urteil zur Kenntnis genommen. Wenn der Wind einen Funken mit sich gebracht hätte, hätte sie vermutlich Feuer gefangen, ihre Haare waren strohtrocken, und sie war bleich wie Papier. Sie trug einen Nylonkittel mit großen tiefen Taschen, die rein gar nichts enthielten, sie waren längst durchsucht und entleert worden. Auf die Brusttasche, dort, wo sich ihr Herz befand, war ein rot-grünes Logo gestickt, das Wort »Europris« in großen Buchstaben. Quer über ihren weißen Hals zog sich eine hässliche und unsauber verheilte Narbe. Sie war untergewichtig und vielleicht anämisch, rothaarig und sommersprossig. Aber trotz ihrer Farblosigkeit floss natürlich Blut durch ihre Adern, vor allem in diesem Augenblick, als sie hier vor ihm stand und ihre Aussage machen sollte. Die Hände tief in den sorgfältig durchsuchten Kitteltaschen vergraben. Sie wartete auf die Erlaubnis, sich zu setzen, war nicht dreist genug, eigenmächtig zu handeln. Sejer hatte im Laufe der Jahre schon viele Menschen vernommen, aber noch niemanden wie sie.

Sie zog vorsichtig den Stuhl zu sich heran, er durfte nicht über den Boden scharren, das hätte doch jemand hören und sich gestört fühlen können. Sie hatte noch nie mit den Anklagebehörden zu tun gehabt, um nichts in der Welt wollte sie ihn irritieren, provozieren oder seinen Zorn erregen. Erst jetzt entdeckte sie Sejers Hund hinten in der Ecke, der Hund erhob sich und kam auf sie zugetrottet. Der Hund Frank Robert, ein kleiner fetter Shar-Pei, war mit seinen vielen Falten und Runzeln ein bezauberndes Geschöpf, er schien einen viel zu großen Kittel zu tragen, genau wie sie selbst. Der Hund stellte sich auf die Hinterbeine und legte ihr seinen schweren Kopf auf den Schoß. Seine in den Falten kaum sichtbaren Augen rührten sie und ließen sie den Ernst der Lage vergessen. In ihrem Blick lag eine Andeutung von Freude, ein kleines Leuchten. Auch ihre Augen waren farblos, die Iris war hell und wässrig, die Brauen kaum zu sehen und dünn wie Marderhaare. Sie hatte nicht mit einem Hund gerechnet. Vor allem nicht mit einem, der auf diese Weise auf sie zukam, zutraulich und ohne Vorbehalte. Sie war nicht daran gewöhnt, Begeisterung zu erwecken, nicht bei Volk und nicht bei Vieh. Als alter Bettler, der er war, blieb Frank auf den Hinterbeinen stehen und sabberte auf den grünen Europris-Kittel. Als sie aufhörte, ihn zu streicheln, legte er ihr die Pfote aufs Knie und hoffte auf mehr.

»Frank«, sagte Sejer, »leg dich hin.«

Der Hund trottete zurück an seinen Platz. Er hatte eine Decke, die er mit den Pfoten zu einer Art Nest zusammengeschoben hatte. Die vielen überzähligen Kilos machten ihn langsam, und jedes Kommando des Leittieres musste sorgfältig übersetzt und bewertet werden, bis es befolgt wurde, deshalb dauerte es. Außerdem war er ein in die Jahre gekommener Hund. Sehkraft, Gehör und Beweglichkeit waren deutlich reduziert.

»Wir können uns doch mit Vornamen anreden«, sagte der Kommissar. »Konrad.«

Er streckte die Hand aus.

»Ragna«, flüsterte sie. »Riegel.«

»Wie die Schokolade«, sagte Sejer und lächelte. »Die hab ich als Kind so gern gegessen, und da kostete sie nur dreißig Öre. Einmal Riegel konnten sich alle leisten.«

Als diese Worte gefallen waren, ging ihm auf, was er da gerade gesagt hatte, aber sie musste lächeln, und das Eis war gebrochen.

Ihre Hand, schmal und weiß, lag für einen Augenblick in seiner. Er registrierte den Mangel an Kraft, der bescheidene Händedruck war warm und trocken, aber sie zeigte keine Anzeichen von Angst, obwohl sie rasch die Augen niederschlug. Der Händedruck war der erste Schritt zu etwas Unvermeidlichem. Zu allem, was besprochen, erklärt und verstanden werden musste.

Sie musterte ihn verstohlen. Musste an altes, imprägniertes Holz oder Baumstämme in einem Fluss denken, an etwas Schweres, Treibendes. Er war um einiges älter als sie, groß und grau. Er trug ein schlichtes Hemd mit einem dunkelblauen Schlips. Auf den Schlips war eine Kirsche mit grünen Blättern gestickt. Die Kirsche war keinesfalls maschinell angebracht worden, dachte Ragna, jemand, vermutlich eine Frau, hatte sich mit Nadel und Faden ans Werk gemacht und ihm diese kleine Frucht als Liebeserklärung geschenkt.

»Jetzt wollen Sie sicher Vertrauen zwischen uns aufbauen«, flüsterte sie. »Sie werden mit keinem Wort erwähnen, warum ich hier sitze, noch lange nicht. Sie wollen mich langsam anwärmen, bis ich platze wie ein Maiskorn in einem Kochtopf. Und mein Inneres ausstülpe.«

»Vertrauen wäre schön«, sagte Sejer. »Möchten Sie das?«

Ragna hatte sich rein gar nichts erhofft. Die Polizei wollte doch ein Geständnis; wenn das vorlag, konnte Anklage erhoben werden, und dann würde der Fall vor Gericht kommen. Und die Polizei könnte sich auf den Nächsten konzentrieren.

»Ja, bitte«, flüsterte sie. »Vertrauen wäre schön.«

Er wusste, dass sie keine Stimme hatte. Die hatte sie einige Jahre zuvor bei einer Halsoperation verloren, einem belanglosen Eingriff, der fatale Folgen gezeitigt und ihre Stimmbänder unwiderruflich ruiniert hatte. Außerdem war die Narbenbildung unvollständig gewesen, sie hatte nun eine grobe, gezackte Linie am Hals, die für alle Welt deutlich zu sehen war, und das Narbengewebe war noch immer rot. Er stellte sich vor, dass sie die Narbe vielleicht mit einem Rollkragenpullover oder einem Halstuch verdeckte. Jetzt hatte sie sich diese Mühe nicht gemacht. Der nackte, narbige Hals war ein Teil ihrer Erklärung. Aber obwohl sie nur flüstern konnte, hatte er keinerlei Probleme damit, sie zu verstehen. Ragna artikulierte sich besser als die meisten anderen. Sie nutzte die Gesichtsmuskeln, bildete die Wörter deutlich mit Zunge und Lippen. Außerdem gewöhnte Sejer sich rasch an die Situation. Er schärfte alle Sinne, las ihr von den Lippen ab und registrierte ihre Mimik, das machte er ohnehin immer bei Vernehmungen. Ihm kam der Gedanke, dass gerade das hier, so zu sitzen, einem anderen Menschen gegenüber, der etwas zu erzählen hatte, eine Geschichte über Angst und Wut, über gefährliche Gegner oder über unvermeidliche Notwehr, großes Unglück oder brennenden Hass, ihn noch immer faszinierte, trotz seines Alters. Eine Erinnerung aus seiner Kindheit tauchte auf. Die kleinen Jungen, die auf dem Schulhof aufeinander einschlugen und danach dem Lehrer, der sie zur Ordnung rief, den üblichen Kommentar servierten: Der da hat aber angefangen!

»Ragna«, sagte er ernst. »Sie sitzen seit achtundvierzig Stunden in Untersuchungshaft. Sie müssen vorläufig vier Wochen hierbleiben, dann erfolgt eine Verlängerung um weitere vier Wochen, vermutlich wird das mehrere Male geschehen. Werden Sie das aushalten?«

»Sicher«, flüsterte sie.

»Schaffen Sie es, sich an die Wärter zu wenden und zu sagen, was Sie brauchen? Auch wenn es Ihnen manchmal vielleicht verweigert wird?«

»Ich brauche nichts. Ich bekomme zu essen und zu trinken. Ich habe meine eigene Decke. Genau wie Frank.«

Sie nickte zu dem Hund hinüber.

»Der kriegt jedenfalls, was er braucht«, fügte sie hinzu und spielte damit auf die viel zu vielen Kilo des Hundes an.

Diese kleine Frechheit wurde von einem gutmütigen Lächeln begleitet, vielleicht als Antwort auf seine Stichelei über die Schokolade.

»Ich weiß, dass Sie keine Familie haben«, sagte Sejer. »Oder irre ich mich da?«

»Ich habe einen Sohn«, flüsterte Ragna rasch. »In Berlin. Aber der kommt nie nach Hause. Er hat auch keine Familie, er leitet da unten ein Hotel. Ich bekomme immer zu Weihnachten eine Karte, oder zum Geburtstag. Bei seiner Geburt war ich erst siebzehn.«

»Wie heißt er?«

»Rikard Josef.«

»Und sein Vater?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Warum kommt Ihr Sohn nie nach Hause?«

Sie zuckte mit den schmalen Schultern und schaute in eine andere Richtung. Sejer schob den abwesenden Sohn beiseite, wie ein Stück Gepäck, für das er im Moment noch keine Verwendung hatte.

Während des Gesprächs beobachtete er die zurückhaltende Gestalt. Sie saß gerade und still auf dem Stuhl, fast in Habachtstellung, und zeigte deutlich ihren Respekt vor der Autorität, die er hier vertrat. Dennoch wusste er, dass sie nach einiger Zeit, einigen Stunden oder Tagen, langsam auftauen würde. Sie würde anfangen, sich zu bewegen, würde ihre Hände mehr benutzen, würde sich anders hinsetzen, sich vorbeugen oder zurücklehnen, er sah das alles nicht zum ersten Mal. Aber sie war nicht wie die Angeber, aggressiv, von denen ihm so viele begegnet waren. Die hingen gern über dem Tisch und betonten ihre Aussagen mit der Faust, oder sie kippelten mit dem Stuhl, um so viel Lärm zu machen wie möglich. Einige trampelten durch das Zimmer, sie fluchten und pöbelten, während sie genau die Wörter schrien, die er so oft auf dem Schulhof gehört hatte. Er machte den Anfang.

Ragna würde niemals laut werden können. Diese Tatsache hatte ihr eine stoische Ruhe verliehen, hielt sie fest, hielt sie vielleicht gefangen. Es ist schwer, aus der Haut zu fahren, wenn man nicht schreien kann. Sie gehört nicht hierher, dachte er, bei ihr herrscht Ordnung. Ein altes Haus in Kirkelina, das sie von ihren Eltern geerbt hat. Feste Stelle und freundliche Kollegen. Sie verdiente zwar...

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