Nietzsches Vermächtnis - Ecce homo und Der Antichrist

Nietzsches Vermächtnis - Ecce homo und Der Antichrist

von: Heinrich Meier

Verlag C.H.Beck, 2019

ISBN: 9783406739545

Sprache: Deutsch

353 Seiten, Download: 2882 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Nietzsches Vermächtnis - Ecce homo und Der Antichrist



II

Weisheit


Ecce homo ist in vier Kapitel gegliedert, deren Überschriften gleichlautend beginnen. Bei genauerer Betrachtung ergibt sich indes, daß der Viergliedrigkeit des Buchs nicht anders als der Viergliedrigkeit des Vorworts eine Dreiteilung zugrunde liegt: Die ersten beiden Kapitel beziehen sich insonderheit auf Nietzsches Sein, das dritte auf Nietzsches Werk und das vierte auf Nietzsches Wirkung. Die Zusammengehörigkeit des ersten und des zweiten markiert der Autor durch die Eröffnung des dritten Kapitels: «Das Eine bin ich, das Andre sind meine Schriften.» Nicht minder kommt sie in der inneren Verschränkung der Kapitel I und II zum Ausdruck. Auf die acht Abschnitte von Warum ich so weise bin folgen in Warum ich so klug bin, dem einzigen der vier Kapitel, das mit einem Gedankenstrich beginnt, ebenfalls acht Abschnitte, während die Abschnitte II, 9 und II, 10 beiden Kapiteln gehören. Nietzsche setzt den Schluß des ersten Teils durch zwei Gedankenstriche am Ende von II, 8 ab und nimmt zu Beginn von II, 9, die Kapitel zusammenführend, den Untertitel von Ecce homo auf: «An dieser Stelle ist nicht mehr zu umgehn die eigentliche Antwort auf die Frage, wie man wird, was man ist, zu geben.» Daß in Ecce homo beinahe alles Wichtige von der Zahl Vier regiert wird oder in Vielfachen von Vier auftritt, unterstreicht die Fragen, auf die das Spiel von Dreiteilung und Viergliedrigkeit unsere Aufmerksamkeit lenkt. Warum verhandelt Nietzsche das Eine in zwei Anläufen? Weshalb verwendet er zwei Kapitel auf seine Tugenden? Wie unterscheidet sich seine Weisheit von seiner Klugheit? Und wie verhalten sich beide zur «Umwerthung aller Werthe»?

Die Weisheit wird weder im ersten noch im zweiten Kapitel erwähnt. Auch weise kommt in ihnen nach der Überschrift von Kapitel I nicht mehr vor. Dagegen ist in Kapitel II wiederholt von Klugheit die Rede, und gleich im zweiten Satz bekräftigt Nietzsche ausdrücklich die Selbstzuschreibung der Überschrift, klug zu sein. Nietzsche bedeutet dem Leser, daß er die Klugheit als ein Wissen begreift und daß dieses Wissen die Einzelheiten und Umstände der Lebensführung betrifft: er spricht von «meiner Moral». Mit dem Verständnis der Klugheit als eines praktischen Wissens und einer das Handeln orientierenden Tugend knüpft er an die bis zu Aristoteles zurückreichende Tradition der Unterscheidung von Sapientia und Prudentia, Sophia und Phronesis an. Er gebraucht Klugheit jedoch außerdem im Sinne einer nicht auf Wissen fußenden oder bewußt herbeigeführten, sondern erst in der Rückschau erkennbaren Zweckdienlichkeit. So attestiert er etwa dem Instinkt, einem Umweg oder einer Entwicklungsverzögerung Klugheit.[1] Da die Klugheit im zweiten Kapitel durch die Verwendung des Begriffs erläutert wird, springt um so mehr ins Auge, daß Nietzsche im ersten Kapitel mit Rücksicht auf die Weisheit nichts dergleichen tat. Wer sich über die Weisheit klarwerden will, bleibt auf seine eigenen Kräfte verwiesen. Die Weisheit läßt sich nicht lehren, wie sich die Klugheit lehren läßt. Der Leser, der die Frage der Weisheit im Ernst stellt, kann die Antwort im Nachdenken über den Aufbau der beiden Kapitel, ihr Aus- und Zueinander, finden. Die Bestimmungen der Klugheit, das praktische Wissen und die Zweckdienlichkeit, die Warum ich so klug bin bereithält, geben ihm näheren Aufschluß über den architektonischen Vorrang der Weisheit und legen ihm die Rückkehr zum Beginn von Warum ich so weise bin nahe, das im Licht der gewonnenen Einsicht oder der erhärteten Vermutung eine zweite Lektüre verlangt. In Kenntnis beider Kapitel liegt für ihn jetzt am Tage, daß die vier Worte, mit denen Nietzsche einsetzt, «Das Glück meines Daseins», das Leitmotiv des ersten Teils von Ecce homo anschlagen. Offenbar ist die Weisheit auf das Glück gerichtet. Oder das Glück ist, recht verstanden, ein Werk der Weisheit.[2]

Auf den ersten Blick scheint der Auftakt, den Nietzsche wählt, in eine andere Richtung zu weisen: «Das Glück meines Daseins, seine Einzigkeit vielleicht, liegt in seinem Verhängniss: ich bin, um es in Räthselform auszudrücken, als mein Vater bereits gestorben, als meine Mutter lebe ich noch und werde alt.» Nietzsche ruft im ersten Atem nicht die Weisheit, sondern die Notwendigkeit auf. Das Glück seines Daseins gründet in seiner unverfügbaren Herkunft. Die Beatitudo geht in letzter Instanz auf die Fortuna zurück. Zu zeigen, wie die Weisheit sich zur Notwendigkeit ins Verhältnis setzt und dabei ihr Werk hervorbringt, ist der eigentliche Gegenstand der beiden Kapitel, in denen Nietzsche sich anheischig macht zu erklären, warum er so weise und so klug sei. Er beginnt mit seiner «doppelten Herkunft, gleichsam aus der obersten und der untersten Sprosse an der Leiter des Lebens», die ihn nach seinem Vater zu einem Décadent und nach seiner Mutter zu einem Anfang prädestiniert. Ein «Verhängniss», das seine Weisheit als Glücksfall begreift. Und zwar zuallererst als Glücksfall für den Philosophen. Denn die Doppelung, daß er «als» sein Vater bereits gestorben und «als» seine Mutter noch am Leben ist, soll ihm ebenjene «Neutralität» erlauben, die Nietzsche in Das Problem des Sokrates förmlich ausschloß: die «Freiheit von Partei im Verhältniss zum Gesammtprobleme des Lebens».[3] Diese Freiheit, von der er sagt, sie zeichne ihn «vielleicht» aus, setzt ihn in den Stand, ein begründetes Urteil über das Leben abzugeben. Wir erfahren im ersten Abschnitt noch mehr über den Philosophen. Nietzsche hebt hervor, daß sich in der Zeit, als die Morgenröthe entstand, «vollkommne Helle und Heiterkeit, selbst Exuberanz des Geistes» bei ihm «nicht nur mit der tiefsten physiologischen Schwäche, sondern sogar mit einem Excess von Schmerzgefühl» vertrugen. Später wird er uns davon unterrichten, daß es sich bei der Morgenröthe um das erste jasagende Buch handelte, das er nach dem Beginn seines philosophischen Lebens schrieb. Doch schon hier teilt er mit, er habe damals eine «Dialektiker-Klarheit par excellence» besessen und Dinge «sehr kaltblütig» durchdacht, zu denen er «in gesünderen Verhältnissen nicht Kletterer, nicht raffinirt, nicht kalt genug» sei. Nach dieser Variation über das Sokratische Thema der Praxis des Sterbens und Totseins verfehlt Nietzsche nicht, seine Leser daran zu erinnern, daß ihnen – aus der Götzen-Dämmerung – bekannt sein mag, inwiefern er Dialektik als «Décadence-Symptom» betrachtet, «zum Beispiel im allerberühmtesten Fall: im Fall des Sokrates.» Sokrates ist der erste Philosoph, der in Ecce homo nach dem Gott Dionysos beim Namen genannt wird. Was Nietzsche mit Sokrates verbindet, reicht ungleich tiefer als das, was beide trennt.[4] Doch Nietzsches «Verhängniss» erweist sich als Glücksfall nicht nur für den Philosophen, sondern ebenso für die Menschheit: «Ich habe für die Zeichen von Aufgang und Niedergang eine feinere Witterung als je ein Mensch gehabt hat, ich bin der Lehrer par excellence hierfür, – ich kenne Beides, ich bin Beides.» Seine «doppelte Herkunft» ließ Nietzsche zum Experten «in Fragen der décadence» werden, die er am eigenen Leib erfahren und immer aufs neue «vorwärts und rückwärts buchstabirt» hat. Sie bewirkte, daß sich die Beobachtung und alle Organe der Beobachtung bei ihm verfeinerten, daß er sich in der Optik des Kranken wie der des Gesunden übte und schließlich die Meisterschaft im Einnehmen und Verwerfen, im Bejahen und Verneinen entgegengesetzter Perspektiven erwarb, die ihn zu dem Wegweiser macht, der der Menschheit not tut: «Ich habe es jetzt in der Hand, ich habe die Hand dafür, Perspektiven umzustellen: erster Grund, weshalb für mich allein vielleicht eine ‹Umwerthung der Werthe› überhaupt möglich ist.» Es handelt sich um das dritte vielleicht in der Rhetorik der Auszeichnung und der Einmaligkeit, die Nietzsche zur Untermauerung seiner Autorität im Hinblick auf die «schwerste Forderung» aufbietet.[5]

Wenn Nietzsche es «in der Hand» hat, die Perspektiven umzustellen, so deshalb, weil er nicht nur «ein décadent» und zugleich «dessen Gegensatz» ist, sondern weil die beiden Seiten, die er unter Berufung auf seine «doppelte Herkunft» geltend macht, einander nicht paritätisch...

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