Wie Frau Krause die DDR erfand

Wie Frau Krause die DDR erfand

von: Kathrin Aehnlich

Verlag Antje Kunstmann, 2019

ISBN: 9783956143380

Sprache: Deutsch

180 Seiten, Download: 300 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Wie Frau Krause die DDR erfand



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Immer, wenn sie unglücklich war, suchte sie Erlösung in der Lotterie. Sie glaubte an eine höhere Gerechtigkeit, an einen Lottogott, der ein Einsehen haben und sie von allem Übel befreien würde. Meist überfiel sie dieses Gefühl zu später Stunde, wenn alle Annahmestellen geschlossen hatten. Sie war gefangen in ihrer Erkenntnis, dass es unbedingt in diesem Moment sein müsse. Sie glaubte, ihre Inspiration könne ihr verloren gehen, wenn sie bis zum nächsten Morgen warten würde. Es musste jetzt sein und nur JETZT. Für diese dringenden Fälle gab es einen virtuellen Lottogott.

Sie konnte den Grad ihrer Verzweiflung an der Höhe der Abbuchungen auf ihrem Konto ablesen. Die ersehnten Gutschriften dagegen waren bisher geringfügig gewesen. Aber auch 7,50 Euro waren ein Zeichen. Die Mitteilungen kamen immer per E-Mail. Absichtlich vermied sie es, die Lottozahlen nach der Ziehung zu überprüfen. Sie suhlte sich in der Gewissheit, gewonnen zu haben. Je länger sie dieses Gefühl auskosten konnte, umso besser. Noch im Schlafanzug lief sie am Montagmorgen zum Rechner und öffnete ihr Postfach. Und tatsächlich hatte ihr die Lottozentrale eine Mail geschickt.

»Liebe Frau Krause, Sie haben gewonnen!« Sie starrte auf den Bildschirm, über den ein kleiner Mann mit Aktenkoffer lief: Ihr persönlicher Geldbote. Isabella Krause war einen Doppelklick von ihrem neuen Leben entfernt. Sie zögerte. Noch befand sie sich in einem Schwebezustand. Im Jackpot war die unglaubliche Summe von 14 Millionen gewesen. Sie versuchte, sich die Zahl auf ihrem Kontoauszug vorzustellen. Was würde sie zuerst tun? Sich eine neue Wohnung suchen? Vielleicht ein Haus am Stadtrand kaufen? Aber waren das nicht zu profane Wünsche? Für 14 Millionen könnte sie sich ein Apartment in New York leisten, eine Jacht in der Südsee, einen Weinberg in Frankreich. Oder was noch viel besser wäre, ein eigenes Theater. Selbstverständlich würde sie dann in allen Stücken die Hauptrolle spielen, und das Publikum musste endlich begreifen, dass sie eine große Künstlerin war. Aber vielleicht würde sie einfach nur die offene Rechnung im Pflegeheim der Mutter bezahlen.

Der Novemberwind drückte gegen die Scheiben, und bei jeder Böe peitschten die Regentropfen über das Glas. Die Birke auf der gegenüberliegenden Straßenseite wedelte ungelenk mit ihren dünnen Zweigen. Winkte sie ihr zu, oder war es bereits eine Geste der Kapitulation?

Sie sah an sich hinunter, auf ihre nackten Füße, auf die Lackreste an den Zehennägeln. Rote Inseln, die vom Sommer geblieben waren. Jetzt war es Herbst. Der erste Frost hatte über Nacht aus den runden Köpfen der Ahornbäume Reisigbesen gemacht. Gestern noch hatten sie geleuchtet, kleine Sonnen, die ihr den Weg zum Bahnhof wiesen, zu dem Bahnhof, von dem aus es eine direkte Verbindung zum Flughafen gab. Für 14 Millionen könnte Isabella alle Blätter wieder ankleben lassen. Sie sah das nasse Laub auf dem Gehweg liegen und zog fröstelnd die Schultern nach oben. Da stand sie, in einem viel zu großen Schlafanzug, neben ihrem Schreibtisch und fror. Der Schlafanzug war das Überbleibsel einer kurzen Liebe, eine Trophäe aus Flanell, Größe 52, blau-weiß gestreift. Sollte sie darin Millionärin werden?

Das Lottospielen war ihr quasi in die Wiege gelegt worden, denn sie war auf dem Fußboden einer Lotto-Annahmestelle zur Welt gekommen. Es war eine Geschichte, die an keinem Familienfest unerzählt blieb. Damals am 7. Oktober, am Feiertag zu Ehren der Republik, als sie alle im Haus der Großmutter beim Kaffetrinken saßen und die Mutter plötzlich Bauchschmerzen bekam. Jedes Detail wurde erinnert: Die Quarktorte, die etwas zu braun geraten war, der Mohnkuchen, den der Vater verweigert hatte, weil »Mohn dumm macht«. Ein Argument, das die Großmutter mit einem ihr eigenen Blick quittiert hatte: »Was sollte bei so einem Hallodri noch zu verderben sein?« Die Mutter dagegen hatte drei Stück gegessen. Und bis heute herrschte in der Familie Unsicherheit darüber, ob dem Mohn eine geburtsfördernde Wirkung zuzuschreiben sei. Vielleicht war es aber auch die »gute Butter« in der Quarktorte gewesen, oder, was am wahrscheinlichsten schien, die Großmutter hatte die Kannen vertauscht und der Mutter statt »Muckefuck« Bohnenkaffee eingeschenkt. Verbürgt ist, dass die Sammeltasse in der Hand der Mutter plötzlich zu zittern begann, ausgerechnet die kobaltblaue mit dem breiten Goldrand, und die Großmutter vorsorglich um den Tisch herumeilte, um ihre Lieblingstasse zu retten. Dann beruhigte sie ihre Tochter, die über plötzliche Bauchschmerzen klagte, was bei der Kuchenmenge schon mal vorkommen konnte. Die Mutter wurde auf das Sofa gebettet, mit Kamillentee und einer Wärmflasche versorgt, und es dauerte einige Zeit, bis die Großmutter zu ahnen begann, dass die Bauchschmerzen nicht eine Folge des übermäßigen Kuchengenusses, sondern die zwei Monate zu früh einsetzenden Wehen waren. Mit einer Frühgeburt hatte niemand gerechnet. Und vor allem nicht am 20. Republikgeburtstag, mitten auf dem Land, weit ab vom städtischen Krankenhaus. Unter den Familienmitgliedern war Panik ausgebrochen.

Noch immer rannte der kleine Geldbote über den Bildschirm und versprach einen Gewinn. Isabella Krause rückte den Pfeil auf »Weiter« und stellte sich vor, wie sich im nächsten Moment ein Schwall Geldscheine über sie ergießen würde. Einmal Goldmarie sein und das Pech vergessen, das an ihrem Leben klebte. Entschlossen drückte sie die Maustaste.

Sehr geehrte Frau Krause: Sie haben 83,70 Euro gewonnen. Sie spürte eher Erleichterung als Enttäuschung. Immerhin hatte sie vier Zahlen richtig getippt, ein deutliches Zeichen. Die ersten beiden Zahlen, die 7 und die 10, waren Isabellas Geburtsdatum. Diese Variante war nicht besonders einfallsreich, aber wie viele andere Lottospieler hing auch Isabella an den Zahlen, die ihr zu Beginn ihres Lebens zugeordnet worden waren. Früher war Isabellas Geburtstag immer ein Feiertag gewesen: Der »Tag der Republik«. Für die Kinder heute ein Tag wie jeder andere. Die Erinnerung an das Land, in dem Isabella aufgewachsen war, würde sich, biologisch bedingt, abschwächen und die DDR bald nur noch eine Fußnote in der deutschen Geschichte sein.

Die dritte richtige Zahl war die 49, Isabellas Alter, das sie gern verschwieg. Was würde sie tun, wenn sie im nächsten Jahr fünfzig würde? Umsteigen auf das italienische Enna-Lotto, bei dem die Zahlenreihen bis 90 gingen? Oder sollte sie 49 Jahre alt bleiben, zumindest auf dem Lottoschein? Eine Lüge, die ihr nicht schwerfallen würde. Zudem fand sie, dass fünfzig keine schöne Zahl war. Es gab sympathische und unsympathische Zahlen. Nie hätte sie die 20 getippt, ein Schwan mit Buckel, nie die 17 oder die 31 und erst recht nicht die 8, eine geschnürte Null.

Die 19 hatte Isabella aus Gewohnheit angekreuzt. Die 19 hatte in ihrem jetzigen Leben keine Bedeutung mehr, trotzdem mochte sie die Zahl noch immer. Damals dachte jedes Kind im Land bei der 19 nur an eines: »Kurzkrimi«. Die Lottosendung am Sonntag kam gleich nach dem »Sandmännchen« und zog sich bis zur aktuellen Kamera. Eine halbe Stunde, die gefüllt werden musste. Jeder Zahl war ein Genre zugeordnet. Und wurde sie gezogen, folgte ein kurzer Film zum Thema. Die 19 »Kurzkrimi« lag in der Beliebtheitsskala gleich hinter der 14 »Humor« und der 24 »Schlager«. Niemals hätte Isabella die 4 »Blasmusik« oder die 34 »Volksmusik« getippt.

Die Tele-Lotto-Ziehung war für die meisten Fernsehzuschauer im Land heilig. Auch für Großmutter Isa. Aufgeregt rannte sie vor Sendungsbeginn durch die Wohnung und suchte die nötigen Utensilien zusammen: Brille, Lottoschein, Zettel, Bleistift, um pünktlich um sieben in ihrem Sessel zu sitzen, die Füße auf den Hocker gelegt. Sie saß aufrecht und blickte gebannt auf den Fernseher wie auf einen Horizont, an dem sie das Auftauchen eines unbekannten Kontinents erwartete.

Mit einem Lächeln quittierte sie die Anfangsmusik und blickte skeptisch auf den jeweiligen prominenten Gast: »Der hat uns gerade noch gefehlt!«

Die alleinige Aufmerksamkeit der Großmutter war auf den Notar gerichtet. Zu Beginn jeder Sendung überprüfte er alle Vorrichtungen und gab mit dem Satz »Ich habe mich von dem ordnungsgemäßen Zustand des Ziehungsgerätes überzeugt« die Lottoziehung frei.

»Abwarten!«, sagte die Großmutter.

Das Ziehungsgerät war einzigartig. Ein sich drehender kegelförmiger Berg, aus dessen Spitze auf Knopfdruck, wie bei der Eruption, eine Eisenkugel erschien, die auf einer vorgeformten Bahn um den Kegel herum nach unten rollte. Am Fuß drehten sich 35 Zahlenkegel von denen fünf abgeschossen werden mussten. Und auch wenn sich der Notar, meist war es Herr Rohr, zuvor von dem ordnungsgemäßen Zustand des Ziehungsgerätes überzeugt hatte, galt das vornehmlich im juristischen und weniger im technischen Sinn. Warum sollte in diesem Land, in dem viele Dinge kaputt gingen, ausgerechnet ein Lottoziehungsgerät funktionieren? Oft erschien auf Knopfdruck keine Kugel. »Zu blöd zum Drücken!«, sagte die...

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