Sonne, Mond, Zinn - Roman

Sonne, Mond, Zinn - Roman

von: Alexandra Riedel

Verbrecher Verlag, 2020

ISBN: 9783957324368

Sprache: Deutsch

120 Seiten, Download: 522 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Sonne, Mond, Zinn - Roman



6


Noch vor dem ersten Glockenschlag saß ich wieder in meinem Mietwagen und beobachtete das Eintreffen der Gäste.

Sie kamen nach und nach aus allen Richtungen, trafen auf dem Vorplatz der Kirche zusammen und reichten sich die Hände. Oberkörper drehten sich leicht nach links oder rechts, um zu eröffnen, wer noch dabei war. Ein lächelndes Nicken gepaart mit einem Händedruck, gelegentlich auch eine Verneigung. Dann strich man sich das faltenfreie Sakko glatt, winkelte den Arm leicht an, streckte ihn der Begleitung entgegen und zog weiter.

Buntes Treiben in andächtigem Schwarz.

Etwas abseits vertrat man sich die Füße oder schaukelte von den Hacken zu den Zehen und wieder zurück, hin und her, die Hände in den Hosentaschen, möglicherweise dem knirschenden Kies unter den Schuhen lauschend. Die einen starrten gedankenverloren ins Leere, andere reckten ihre Hälse den Neuankömmlingen entgegen, die die Straße in Richtung Kirche heraufspazierten, auf meinen Wagen zu, an meinem Wagen vorbeigingen und dann auf den Kirchhof abbogen.

Man sprach über das Wetter, auch darüber, wie gut die Idee gewesen sei, ein Stück zu Fuß zurückzulegen.

Wirklich schönes Wetter.

Wirklich gute Idee.

Nochmal die Beine vertreten.

Nochmal tief durchatmen.

Man fange an zu schwitzen, so ganz in Schwarz.

Der heißeste Tag des Jahres.

In der Kirche bestimmt angenehm kühl.

Bachs Toccata werde gespielt.

Da vorne sei es schon.

Was?

Bach ein Klangredner, seine Stücke Gespräche.

Wessen Stücke?

Bachs.

Wie spät?

Gleich elf.

Unter all den vielen Menschen finde man sie doch niemals.

Doch, doch.

Wo?

Da, da.

Zunächst fiel mein Blick auf Hinterköpfe, dann darüber hinweg auf den Eingang.

Erst der Pfarrer, dann sie, die Witwe. Streng sah sie aus. Tatsächlich in etwa so, wie ich sie mir noch gestern vorgestellt hatte. Sie wurde von einem Mann aus der Kirche herausbegleitet, ihrem Sohn Anselm. Die beiden sahen sich sehr ähnlich. Graues Haar, hohe Stirn, hohle Wangen. Er etwa Ende fünfzig, sie vielleicht achtzig.

Mit etwas Abstand folgte Anselms Frau Susanne. Sie bugsierte Baldur, den Bruder des Verstorbenen, geradewegs zur Witwe. Allerdings schien Susanne unsicher, ob sie dort stehen oder lieber zurück in den Hintergrund treten sollte.

Sie auch mit dazu, ja, aber sicher! Das signalisierte ihr der Pfarrer, winkte sie heran.

Es entstand ein kleines Gedränge auf den Stufen des Kircheneingangs. Baldur Hamann geriet ins Wanken, wurde aber noch rechtzeitig aufgefangen.

Ein strenger Blick auf Susanne und wieder zurück auf die Menge. In diesem Blick lag etwas Suchendes. Die Witwe sah sich um, beugte sich zu Anselm hinüber und flüsterte ihm etwas ins Ohr, doch der schüttelte nur den Kopf.

Offenbar wartete sie auf jemanden, und genau dieser Jemand fuhr dann an meinem Wagen vorbei, bremste, setzte zurück und parkte direkt neben mir ein. Noch bevor das Auto richtig zum Stehen kam, öffnete sich bereits die Fahrertür, und Ulrich, der andere, der jüngere Sohn deines Vaters, schwang sich hustend aus dem noch schaukelnden Auto.

Er wirkte etwas zerzaust mit seinen schulterlangen, grauen Haaren. Schnell band er sie sich zusammen und sah dabei nach rechts, sah zu mir herüber, runzelte die Stirn und eilte zur Kirche, zwängte sich durch die Menge.

Ich selbst wartete noch ein wenig ab, betrat erst mit den letzten Gästen die Kirche und nahm auf der Empore Platz. Neben Herrn Weihler. Nur war Herrn Weihler nicht daran gelegen, mich neugierig von der Seite zu mustern. Offenbar hatte er nämlich nicht bemerkt, dass ich viel früher als alle anderen und so weiter. Denn hätte Herr Weihler bemerkt, dass, dann hätte er mich doch gemustert. Es gab also auch keinen Grund, Herrn Weihler zu mustern und dabei vorzugeben, die Orgel zu betrachten. Ich konnte sie tatsächlich betrachten.

Ich sah die Orgel, sah den Organisten und seinen Assistenten. Stocksteif stand er hinter ihm, starrte auf die Notenblätter, auf die Register, auf die Manuale. Drei. Auf der mittleren ruhten die Hände des Organisten.

Er spiele heute die Toccata. Bach ein Klangredner, seine Stücke Gespräche, hatte es geheißen und auch, dass die Stimmen in den Stücken Bachs auf ganz wundersame Art durcheinander arbeiten, miteinander oder widereinander gehen, Reißaus nehmen oder folgen, aber alle Stimmen zum richtigen Zeitpunkt wieder zusammenfinden. So hatten es zwei ältere Herren behauptet, als sie an meinem Wagen vorbeigegangen waren. Pluck und Klaas. Sie würden sich mir später noch vorstellen als Kollegen und Freunde oder wenigstens doch Bekannte des Herrn Hamann. Pluck übrigens Kunsthistoriker, Klaas ein Kollege deines Vaters.

Also, Bach ein Klangredner, seine Stücke Gespräche, hatten Pluck und Klaas gesagt, und ich hörte diesem vermeintlichen Gespräch nun zu, hörte Blitz und Donner sich abwechseln, dachte an einen Windstoß, der das schwere Kirchenportal eindrücken und mit einem Mal alle Kerzen löschen könnte. Die Trauergäste würden sich dann erschrocken raunend umdrehen, nach oben schauen, sich fragen, was man da im Schilde führt.

Was ist da los?

Was wird da getrieben?

Hat da der Teufel seine Finger im Spiel?

Ich fragte mich, ob Herr Weihler vielleicht die Fantomas-Filme aus den sechziger Jahren kannte. Die Momente, da der anonyme, maskierte Meister in seiner Höhlengruft auftrat. Oder vielleicht Dr. Phibes Schreckenskabinett? Ob er wusste, dass Verbrecher in Filmen oft Orgel spielten.

Herr Weihler neben mir. Vor mir und unter mir gesenkte Köpfe auf schwarzen Schultern. In der ersten Reihe die Hamanns, davor der Sarg. Er wurde gerade mit Weihwasser besprenkelt.

Mit Jesus Christus sei er durch die Taufe verbunden, mit ihm sei er gestorben, mit ihm werde er leben, sagte der Pfarrer und betrat die Kanzel. Der Friede des Herrn sei mit euch.

Und mit deinem Geiste.

Gebt einander ein Zeichen des Friedens und der Versöhnung.

Man reichte sich die Hände. Ich sah zu Herrn Weihler hinüber. Wir hatten uns nicht zu versöhnen, kannten uns nicht, hatten keine Gelegenheit, keinen Grund gehabt, uns zu streiten, um uns versöhnend die Hände zu reichen, und trotzdem: Friede ist mit Ihnen, sagte Herr Weihler, und ich reichte ihm die Hand, sah ihn prüfend an, aber es machte noch immer nicht den Anschein, als erkannte er mich wieder. Zumindest ließ er sich nichts anmerken.

Liebe Familie Hamann, liebe Familienangehörige, liebe Trauernde, sagte der Pfarrer, während der Sarg im Schein der Kerzen glänzte und Jesus blutend am Kreuz hing. Man habe sich hier und heute versammelt, um Abschied zu nehmen.

Dann ein lauter Knall. Ein Gesangbuch lag im Gang. Jemand beugte sich zur Seite, hob es auf. Ein nervöses Räuspern, eine ächzende Bank und wieder alles auf Anfang.

Man habe sich hier und heute versammelt, um Abschied zu nehmen von Anton Hamann. Er hinterlasse seine Frau Isolde Hamann, seinen Bruder Baldur Hamann, die Söhne Ulrich und Anselm Hamann sowie die Schwiegertochter Susanne Hamann.

Ich hörte Namen und Bezeichnungen, von dir aber keine Silbe. Hätte ich damit rechnen sollen?

Ich heftete meinen Blick auf die Hamanns, wie ich ihn vorher auf den größten aller Kränze geheftet hatte.

Meinem geliebten Ehemann.

Kerzengerade saß sie da, die Witwe, rührte sich nicht.

Unserem geliebten Vater.

Zwei gesenkte Häupter. Dann ein leichtes Zucken und für einen kurzen Moment machte es den Eindruck, als ob einer der beiden, nämlich Ulrich – aber nein, nichts, er schwieg.

Ein Pakt vielleicht.

Vielleicht hatte der Pfarrer sich vorab mit der Witwe zusammengesetzt, sich angehört, was es zu sagen gab, zu sagen geben sollte, später dann, auf der Kanzel. Dabei könnte auch ihm ihre Stimme aufgefallen sein. Wie geölt, keine Heiserkeit und so weiter.

Der Pfarrer und die Witwe sitzen im Wohnzimmer. Löffel kratzen unentwegt über den Porzellangrund ihrer Teetassen. Die Marmeladen-Kekse bleiben unangetastet, ein Name ungenannt, aber das fällt nicht weiter auf. Die Stationen des Lebens sind bereits notiert, montiert, fest verschraubt. Nichts wackelt, nichts bringt das Gerüst ins Wanken. So ist es gut!

Im Hintergrund schlägt es zwölf Uhr. Ich werde nun gehen. Ist alles gesagt?, fragt der Pfarrer.

Ja, es ist alles gesagt, behauptet die Witwe. Der rüschenartige Stehkragen würgt ihren Hals. Sie streicht mit beiden Händen über die gepolsterten Lehnen...

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