TEXT + KRITIK 229 -Thomas Hürlimann

TEXT + KRITIK 229 -Thomas Hürlimann

von: Alexander Honold, Nicolas von Passavant

edition text + kritik, 2021

ISBN: 9783967074765

Sprache: Deutsch

98 Seiten, Download: 4045 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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TEXT + KRITIK 229 -Thomas Hürlimann



Jürgen Barkhoff

Die Katze als philosophisches und poetologisches Tier


Thomas Hürlimanns Wappentier ist die Katze. Katzen durchstromern sein literarisches und essayistisches Werk, und sie sind dabei weit mehr als Motiv-, Metaphern- oder Symbolträger. »Der Kater ist aus der Spiegelgasse zu uns gekommen«,1 heißt es in Hürlimanns Opus Magnum »Heimkehr« über Dada, den sprechenden Kater, der »aus dem nahegelegenen Cabaret Voltaire entlaufen«2 ist und zum Alter Ego, »Consigliere«,3 also Ratgeber, und Seelenführer des Protagonisten und verhinderten Schriftstellers Heinrich Übel wird. Diese autoreflexive Spiegelfunktion gilt in Variationen für sämtliche Katzen, die auf samtenen Pfoten klug und instinktsicher und zugleich unberechenbar und widerspenstig durch Hürlimanns Texte tigern. »Obwohl sie friedlich mit uns leben, haben sich Katzen ihre Nachtseite bewahrt. (…) Ich habe eine Katzenseele.«4 So bekennt sich der Autor zum hohen Identifikationspotenzial der felinen Spezies für ihn. Katzen sind in seinem Werk zentrale Akteure, die die Handlung an Schlüsselstellen beeinflussen und in denen sich die grundsätzlichsten biografischen, philosophischen und poetologischen Fragen des Hürlimann’schen Lebens und Schreibensverkörpern. Sie sind geschmeidig-präsente und sich zugleich verweigernd-entziehende Grenzgänger zwischen Biografie und Literatur, zwischen Instinkt und Geist, zwischen Tierreich und Menschenwelt, ja zwischen Leben und Tod, zwischen Diesseits und Jenseits. Sie sind menschenaffin und als »philosophische Tiere«5 im Sinne Nietzsches und als »Borderliner der Transzendenz«6 Lehrmeister des Menschen und des Künstlers Thomas Hürlimann. Sein Werk präsentiert eine in ihrer Vielschichtigkeit und Prägnanz außergewöhnliche und weitreichende Verhandlung von Mensch-Tier-Beziehungen. Roland Borgards, die wichtigste Stimme der Cultural Animal Studies im deutschsprachigen Raum, fragt, »welcher konstitutive Anteil den Tieren an der Literaturproduktion des Menschen zuerkannt werden kann«.7 Thomas Hürlimann gibt darauf eine faszinierende Antwort.

Die erste Hürlimann’sche Katze taucht auf dem Friedhof auf, und die vorerst letzte saust bekifft als Chevy-Chauffeur Heinrich Übels wie ein aus der Spur gelaufener Charon »(a)uf die andere Seite, Herr Doktor, vom Tod ins Leben!«8 – oder vielleicht auch umgekehrt, denn um das Offenhalten dieser Frage kreist der ganze Roman. In der frühen Meisternovelle »Das Gartenhaus« kommt das »Verhängnis«,9 sprich die Handlung in Gang, als beim täglichen Friedhofsbesuch sich die Frau verabschiedet und statt ihrer hinter dem Grabstein des toten Sohnes eine Katze auftaucht, »knochig, zittrig«, den Mann »mit großen Augen« fixierend.10 Das Überleben dieses zugleich bedrohten wie zähen Tieres macht der Oberst, der das Sterben seines Sohnes nicht verhindern konnte, fortan zu seinem Lebensmittelpunkt. Hierzu mobilisiert er militärische Erfahrung und den Instinkt des erfahrenen Troupiers, was seine Frau, je mehr ihm die Friedhofskatze »an sein altes, müdes Herz« wächst,11 als Verrat an ihr, dem verlorenen Sohn und der verweigerten gemeinsamen Trauer erfährt. In Interviews hat Thomas Hürlimann die enge Verbindung dieser fiktionalen Konstellation zu seiner Biografie betont. »Die Katze ist in die Geschichte hineingeschlichen, genau wie sie beschrieben ist (…). Es war Dämmerung, ihre Augen leuchteten. Ich wusste nicht, was für ein Tier das war. Es grub etwas aus. Dann sah ich, dass es eine Katze war.«12 Damit steht das Auftauchen dieser individualistischen Tiere, die neugierig Verstecktes ausbuddeln und mit ihren vermeintlich sieben Leben dem Tode trotzen, in unmittelbarem Zusammenhang zu dem Ursprungstrauma des Hürlimann’schen Schreibens, dem Krebstod des 20-jährigen Bruders Matthias im Jahr 1979, an dessen Grab auf dem Friedhof in Zug die Katze dem Autor begegnete. Katzen umkreisen die großen Themen des Hürlimann’schen Werkes, die Frage nach dem Verhältnis zwischen Leben und Tod, den Kampf gegen die Vergänglichkeit, die Unmöglichkeit des Wieder-Holens und die Unausweichlichkeit der Wiederholung.

Auch Kater Dada führt in dieses Territorium, wenn er Heinrich Übel, wie Thomas Hürlimann am 21. Dezember 1950 geboren, in einer Kreis- und Wiederholungsbewegung an den Anfang des Romans zurückbringt – der letzte elliptische Satz, der den Crash beschreibt, ist wortgleich mit dem Romananfang. Heinrich Übels Unfall auf der Fräcktalbrücke zwischen den Ufern, zwischen väterlicher Fabrik und Friedhof, beschert diesem eine Nahtoderfahrung, die in einer Mischung aus Entkräftung, Schmerzdelirium und Euphorie zu einem entgrenzenden Offenbarungserlebnis wird. Sie hat ihr lebensgeschichtliches Pendant im Unfall des Autors im Mai 1998 auf der Brücke über den Sihlsee, über den Hürlimann gelegentlich in Essays und Interviews nachgedacht hat, in denen immer auch Katzen präsent sind. Auch all die anderen Hürlimann’schen Katzen umschleichen diese Grenzbereiche zwischen Biografie und Fiktion und zwischen Tod und Leben.

Sie springen den Leser schon im Titel von Hürlimanns Vaterroman »Der grosse Kater« an. Der Schweizer Bundespräsident, der im Roman vergeblich gegen den Krebstod seines Sohnes und den eigenen Machtverlust ankämpft, erhielt den Vulgo ›Kater‹ in seiner katholischen Studentenverbindung; Hans Hürlimann wurde dort ›Tiger‹ genannt. Er blieb dem Dorfjungen, der es in Bern ganz nach oben schafft, haften, weil er treffend Persönlichkeit und Politikstil des geschmeidigen und instinktsicheren Machtpolitikers und Charismatikers kennzeichnet. Charisma beruht laut Max Weber auf der Zuschreibung außeralltäglicher oder sogar übernatürlicher Kräfte.13 Solche Kräfte, denen der Bundespräsident seinen Erfolg verdankt, sind konstitutiv mit der Urszene des Romans verbunden. Sie schließt sich in Form der ersten Rückblende auf Kindheit und Karriere direkt an eine Episode an, in welcher der Politiker am Schreibtisch seinen Röntgenblick aktiviert und das kommende Unheil wittert: »Es ging um Leben und Tod, er ahnte es, aber dafür war er gewappnet, das hatte er gelernt, im Kampf gegen IHN, den großen Niemand, das Nichts, war der siebenjährige Bub zu seinem Namen gekommen.«14 Es ist eine eindringliche und gewagte Szene, als der Junge sich ein vom Vater schwer verletztes, sterbendes Kätzchen auf den Bauch legt, bis die Vitalinstinkte des Jungen, sein eigenes Magenknurren, und die des wieder zu schnurren beginnenden Kätzchens eins werden und sich gegenseitig stärken. Dargestellt wird eine wechselseitige Kraftübertragung und körperlich-magische Verschmelzung, in der der Junge das Katzenwesen, dem er später seinen Erfolg verdankt, in sich aufnimmt, und dafür das Kätzchen zurück ins Leben holt. »So blieben sie liegen, schliefen sie ein, und sein Schnaufen hob das Kätzchen und senkte es, gab ihm warm und nahm ihm die Angst. (…) Eine Katze, die schnurrt, fühlt sich wohl, und vielleicht, wer weiß, hatten sich die Grenzen tatsächlich verwischt. Der Bub war in die Katze gekrochen und die Katze in den Buben. (…) der Schmittenbub (…) hatte zum ersten Mal erfahren, daß er eine besondere Gabe haben müsse. Er konnte sich einfühlen in das Fühlen der andern. Er konnte die Grenze überwinden, vielleicht sogar den Tod bezwingen«.15 Die hier angedeutete Genreüberschreitung in Richtung magischer Realismus weist auf das Erkunden der äußersten Möglichkeits- und Grenzräume der Mensch-Tier-Beziehungen.

In einem erweiterten Sinne steht das Katerwesen in diesem Roman für das Sinnliche und Intuitive, das Unangepasste und Unzähmbare, mit dem sich der Lebenswille des Knaben gegen die engen Grenzen der bürgerlich-katholischen Welt behauptet und seine Individualität gegen die Normierungs- und Anpassungszwänge der Klosterschule bewahrt. Das Lebensgefühl und Menschenbild, das Hürlimann in der Katzenmetapher ausdrückt, ist im Roman ausgerechnet in der Kirchenkuppel des Klosters Einsiedeln als veritable Gegentheologie im Zeichen der Katze in Szene gesetzt: Als der rebellische Klosterschüler in die Kuppel klettert, entdeckt er in deren Abendmahlsbild eine Katze. In der christlichen Ikonografie sind Katzen als dämonische Tiere eindeutig negativ besetzt und symbolisieren Falschheit, Verrat und die Präsenz des Bösen.16 Deshalb findet sich in Cosmos Damian Asams Einsiedler Abendmahlsbild von 1727 eine Katze zu Judas’ Füßen. Hürlimann gibt ihr eine radikale Umwertung im Geiste nietzscheanischer Lebensphilosophie: »dort hockt sie, vom Tischtuch halb verdeckt, knisternd vor Kraft, sprühend vor Leben, gierig und listig, groß wie eine Tigerin, und funkelt ihn mit geschlitzten Augen an«. Als der Junge entdeckt wird, »starren all die Versehrten da unten nach oben: zu ihm und seiner Katze – das ist mein Leib, das ist mein Blut«.17 Mit den Einsetzungsworten der Wandlung, dem geheimnisvollen Wunder im Zentrum der katholischen Messe, wird das Katzische, mit provokanter Betonung des Leiblichen, zum Medium der Transformation – der Individuen, der Gesellschaft und nicht zuletzt der Kunst. Der Kater entdeckt als junger Klosterschüler sein Talent für das geschliffene Wort bei der als Aufsatzthema gestellten Beschreibung eben dieses Abendmahlsbildes, wobei ihn besonders die Katze inspiriert: »Der Katze ergeht es wie mir. Leben will sie, leben, fressen, lieben, denn anders als die Apostel, die gewaltige Vasen sind, reine Bereitschaft, (…) funkelt das unterm Tisch fressende Tier vor Hunger, Lust und Leben.«18 Für seine glänzende Ausarbeitung voll individuellem Ausdruck wird er sofort durch Zerreißen des...

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