In Männerkleidern - Das verwegene Leben der Catharina Margaretha Linck alias Anastasius Lagrantinus Rosenstengel, hingerichtet 1721. Biographie und Dokumentation

In Männerkleidern - Das verwegene Leben der Catharina Margaretha Linck alias Anastasius Lagrantinus Rosenstengel, hingerichtet 1721. Biographie und Dokumentation

von: Angela Steidele

Insel Verlag, 2021

ISBN: 9783458770688

Sprache: Deutsch

329 Seiten, Download: 7273 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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In Männerkleidern - Das verwegene Leben der Catharina Margaretha Linck alias Anastasius Lagrantinus Rosenstengel, hingerichtet 1721. Biographie und Dokumentation



»MannsKleÿder«


Neuorientierung (1700-1703)

Bei dem Wagner in Halle war Catharina Linck zwar der ständigen Kontrolle durch die Lehrer und die Aufseherin im Waisenhaus entzogen; sie sollte allerdings weiterhin die öffentliche Betstunde besuchen. Der Weg nach Glaucha war kurz, und sie wird auch zu ihrer Mutter und zu Schulfreundinnen Kontakt gehalten haben. Bald kam es jedoch zu Schwierigkeiten mit dem Wagner oder seiner Familie, bei der sie, wie damals üblich, lebte und arbeitete. Vielleicht hatte sie gehofft, bei ihrem neuen Herrn zu lernen, wie man Räder aus Holz macht oder Karren und Wagen zimmert, und musste stattdessen als Magd die niederen Dienste verrichten, die sie schon im Waisenhaus hatte tun müssen. Oder war der Wagner unzufrieden mit ihr? Jedenfalls wechselte Catharina Linck bald schon zu einem Knopfmacher und Kattundrucker, dem sie bei seinem Handwerk half. Er kann das Mädchen zwar nicht als ordentlichen Lehrling aufgenommen haben; doch da sie später immer wieder in diesem Beruf arbeitete, muss sie Unterweisung gehabt haben.

Ursprünglich hatte das Textilgewerbe in Halle keine Tradition, da sich das solehaltige Wasser der Saale schlecht zum Walken eignete.1 Der Salzexport hatte die Stadt im Mittelalter reich gemacht, doch nach der Zerstörung im Dreißigjährigen Krieg war Halles alter Glanz vorbei. Als Teil des Erzstifts Magdeburg fiel die Stadt dem Kurfürstentum Brandenburg zu, dessen Herrscher geschickt Toleranz als Wirtschaftspolitik übten: Um 1700 lebten in Halle 726 Hugenotten, die sich auf die Woll- und Tuchherstellung und -weiterverarbeitung spezialisiert hatten. Höchstwahrscheinlich lernte Catharina Margaretha Linck also bei einem französischen Meister. Da das Knopfmachen und der Kattundruck2 zwei verschiedene Handwerke waren, dürfte Catharina Linck in einer größeren Werkstatt mit verschiedenen Produktionszweigen aufgenommen worden sein. Knopfmacher stellten nicht nur Knöpfe her, sondern auch Quasten, Gürtel aus Schnüren u.ä. Dafür wurde Seide, Kamelhaar oder Wolle zu vierfachen Fäden gedreht, mit Gold- und Silberdraht zu Schnüren weiterverarbeitet und schließlich in verschiedenen Mustern auf bzw. um hölzerne Knopfrohlinge genäht. Das Kattundrucken war eine ganz andere Arbeit. Baumwolle, aus Nordamerika bzw. der Karibik importiert, wurde zu Catharina Lincks Lebzeiten immer beliebter, weil sie sich, im Unterschied zu Wolle, so gut waschen lässt. Die sogenannten Blau- oder Schönfärber stellten Farben her, wuschen, färbten, beizten und spülten die Stoffe und erzeugten Muster in verschiedenen negativen und positiven Druckverfahren. Da sich Catharina Linck später erfolgreich als Schönfärber und Kattundrucker ausgab, muss sie sich einiges von dieser Kunst angeeignet haben.

Dennoch war sie auch bei dem zweiten Handwerksbetrieb in Halle nicht zufrieden – oder mit sich, ihrem Leben und ihren Aussichten. Vermutlich im Frühjahr 17033 schnürte sie leichtes Gepäck – viel mehr dürfte sie auch kaum besessen haben – und begab sich auf ihre erste eigenständige Reise. Die bald Sechzehnjährige wanderte ohne Begleitung nach Calbe, einem kleinen Städtchen an der Saale wenige Kilometer vor ihrer Einmündung in die Elbe. Für die 55 Kilometer brauchte sie zu Fuß etwa zwei Tage; sollte sie immer an der Saale flussabwärts gegangen sein, nahm sie zwischendurch vielleicht auch ein Fischer in seinem Kahn mit. Sie wird fast kein Geld gehabt und in einer Scheune oder unter freiem Himmel geschlafen haben.

Catharina Margaretha Linck zog es nach Calbe, weil sie dort Freunde hatte, wie sie später in ihrem Gerichtsprozess angab. Lebte dort eine ehemalige Klassenkameradin? Oder Bekannte oder Verwandte ihrer Mutter aus ihrer Schönebecker Zeit? Calbe liegt nur zwölf Kilometer von Schönebeck entfernt. Hier, am neuen Ort, wo man sie allgemein nicht kannte, wo sie aber Unterstützung fand, vollzog Catharina Linck die große, entscheidende Veränderung in ihrem Leben: Sie zog Männerkleider an.

Vor Gericht nannte sie zwei Gründe für ihren Kleidertausch: Zum einen habe sie keusch leben wollen, zum anderen hätten das »ja mehr WeibsLeuthe gethan«.4 Der erste Grund brachte wahrscheinlich schon den Untersuchungsrichter zum Lachen: Hätte sie ein keusches Leben führen wollen, wäre sie besser brav im Waisenhaus geblieben. Oder bedrängte sie jemand in der Handwerkerfamilie? Der zweite Grund, den sie anführte, war eine korrekte Beobachtung. Tatsächlich gab es von der Antike bis zum 20. Jahrhundert viele Frauen, die sich als Männer ausgaben.5 Rudolf Dekker und Lotte van de Pol untersuchten 120 historische Fälle vor allem aus den Niederlanden und kommen in ihrer Studie Frauen in Männerkleidern. Weibliche Transvestiten und ihre Geschichte (1990) zu dem Ergebnis, »daß als Frauen verkleidete Männer in der frühen Neuzeit keine kuriosen Einzelfälle waren«:6 Sie fuhren zur See wie Anne Mills oder Maritgen Jans, dienten wie Geneviève Prémoy, Maria van Antwerpen oder Antoinette Berg als Soldat oder wurden Piraten wie Anne Bonny oder Mary Read. Die meisten der bislang bekannten Fälle stammen aus dem 17. bis 19. Jahrhundert, doch stellte sich auch schon 1188 beim Tod des jungen Novizen Joseph im Kloster Schönau bei Heidelberg heraus, dass er eine Frau gewesen war, die daraufhin Hildegund von Schönau genannt wurde.7 Im 20. Jahrhundert schaffte es Valerie Arkell-Smith (1895-1960) als Victor Barker zum englischen Offizier,8 und im Ersten Weltkrieg kämpften zahlreiche Frauen als Soldaten in der russischen Armee.9

Zur Kenntnis der Zeitgenossen wie der Nachwelt gelangten die Frauen in Männerkleidern nur, wenn etwas schiefging, wenn sie aufflogen oder unfreiwillig enttarnt wurden. Von daher darf man annehmen, dass die Dunkelziffer noch viel höher ist. Vielleicht gehörte zu Catharina Lincks Freunden in Calbe genau so ein ›Mann‹. Fast alle der heute bekannten Frauen, die als Männer lebten, stammten wie Catharina Linck aus der Unterschicht und versuchten, durch ihren Kleidertausch der Armut zu entkommen und sich die Hierarchie zwischen den Geschlechtern zunutze zu machen. Denn im Gegensatz zur Verwandlung vom Mann zur Frau10 bedeutet die Verwandlung der Frau zum Mann immer sozialen Aufstieg.11 Als Mann konnte eine Frau aus der Unterschicht nur gewinnen: Im frühen 18. Jahrhundert standen ihr mit einem Mal Berufsmöglichkeiten, Verdienstquellen, Freiheiten und Rechte offen, von denen sie vorher nur träumen konnte.12 Weitere Gründe für den Kleidertausch scheinen Reiselust und Neugier auf die Welt gewesen zu sein, aber auch Flucht vor unerträglichen Lebensumständen, Beziehungen, Abhängigkeiten. Die erotischen Gründe für den Kleidertausch reichten vom Wunsch, einen geliebten Mann als Soldat ins Feld zu begleiten, über den Versuch, sich durch die männliche Verkleidung einer arrangierten Eheschließung zu entziehen, bis hin zu der Absicht, Frauen zu verführen oder eine Frau zu heiraten und mit ihr zusammenzuleben.

Catharina Linck vollzog mit ihrer Reise nach Calbe und dem Kleiderwechsel einen radikalen Bruch mit ihrem früheren Leben. Vermutlich erfüllte sie sich damit einen lange gehegten Wunsch. Bereits im Waisenhaus können ihr die großen Unterschiede in der Erziehung der Jungen und Mädchen bitter aufgestoßen sein. Begabte Waisenjungen durften in die Lateinschule gehen, durften physikalische Experimente machen und im Musikunterricht den Generalbass lernen – Mädchen nicht. Beim Wagner und beim Knopfmacher und Kattundrucker in Halle wollte Catharina Margaretha lieber das Handwerk erlernen und nicht nur als Magd schuften. Warum also nicht ihr Glück als Mann versuchen? Aufsässig war sie, das hatte schon ihre Flucht aus dem Waisenhaus gezeigt, mutig auch, und von Regeln und Vorschriften hatte sie nach dem restriktiven Leben im Waisenhaus genug. Vermutlich zog sie mit ihrem Kleidertausch die Konsequenz aus einem ganzen Potpourri von Erfahrungen und Motivationen.

Wie ihr weiterer Lebensweg zeigt, hatte sie die körperlichen...

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