Ehrensache - Kämpfen gegen Judenhass

Ehrensache - Kämpfen gegen Judenhass

von: Burak Yilmaz

Suhrkamp, 2021

ISBN: 9783518769874

Sprache: Deutsch

233 Seiten, Download: 1709 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Ehrensache - Kämpfen gegen Judenhass



1

FAMILIE


Ich kenne hier jeden

Die Straßen in Obermarxloh gehören uns Kindern. Hier dribbeln wir mit dem Ball, malen mit Kreide auf den Boden, an die Hauswände, spielen Verstecken, Fangen, mit Murmeln. In den vielen Spielstraßen, alle nach deutschen Dichtern benannt, muss jedes Auto langsam fahren. In unserem »Dichterviertel« sind die Siedlungen quadratisch, an allen vier Seiten von einer Straße begrenzt. Jede Siedlung hat einen großen Innenhof, oft mit einem Spielplatz in der Mitte. Und jede bekommt von uns Kindern einen Namen. Unsere heißt bizim mahale – unser Hof. Nördlich von uns liegt laz mahale – der Hof der Lazen, denn dort wohnen viele Menschen aus der Schwarzmeerregion. Die im Osten nennen wir sosyete mahale – der High-Society-Hof. Dort halten sich alle für was Besseres. Im Süden liegt alman mahale – der Hof der Deutschen, bewacht von einem alten deutschen Mann am Fenster, der tagein, tagaus auf seinem Kopfkissen in der Fensterbank lehnt, Bier trinkt, Zigarillos raucht und Schlager hört. Und dann im Westen alevi mahale mit den vielen Aleviten und Kurden. Jede Siedlung hier ist eine eigene Welt. Und für uns Kinder könnte es keine bessere als unser Dichterviertel geben.

Unser Innenhof ist schön und hat genug Platz für alle. Die Wand am Hofeingang sticht sofort ins Auge wegen der vielen Graffitis. Oft stehen da einfach türkische Schimpfwörter oder Namen von Leuten aus dem Viertel. Von den abis, den älteren Jungs im Viertel, wissen wir, dass sie auf der Wand die Namen ihrer Mädchen verewigen und ihnen damit ihre Liebe gestehen – mit vielen, vielen bunten Herzen. Wenn ich eines Tages groß bin und mich in ein Mädchen aus unserem Hof verliebe, schreib ich ihren Namen auch hierhin.

Ich kenne hier jeden, und auch alle Eltern sind miteinander bekannt. An warmen Tagen sitzen sie gemeinsam im Innenhof und trinken Tee oder essen etwas an einem langen Tisch, während wir Kinder spielen. Die Menschen hier sind herzlich, liebevoll, fürsorglich. Man bringt sich Essen vorbei und passt auf die Kinder der Nachbarn auf. Unsere Nachbarin im Treppenhaus gegenüber ist eine alte türkische Frau. Ich nenne sie Oma. Sie lebt allein, ihr Mann verstarb vor vielen Jahren. Sie hat vier Enkelkinder, zwei Jungs, zwei Mädchen. Mit denen spiele ich jeden Tag in unserem Hof. Oma legt uns oft Plätzchen oder Obst auf ihren Balkon raus. Dann steigen wir über ihr Blumenbeet. Akıllı olun çocuklar, seid brav und vernünftig, Kinder, sagt sie ständig.

Über uns lebt eine ältere Frau aus Polen, auch sie verwitwet. Sie kommt uns häufig besuchen und wenn andere Erwachsene im Hof mit uns schimpfen, weil wir so laut spielen, dann nimmt sie uns in Schutz: »Lass die Kinder draußen spielen! Besser als zu Hause Fernsehen gucken!«, ruft sie. Dariusz, ihr Sohn, ist unser Freund. Wir nennen ihn Mustafa, weil er so aussieht wie ein Türke. Dann gibt es noch eine dritte Frau, die im übernächsten Haus wohnt. Ihr Balkon liegt ganz oben. Bei gutem Wetter sitzt sie den ganzen Tag auf ihrem Balkon und liest. Den ganzen Tag! Auch sie lebt allein ohne Mann. Ihr Balkon geht zur Wiese raus, auf der wir Fußball spielen. Manchmal bringt sie uns Kuchen runter. Marmorkuchen, Zitronenkuchen und viele andere Sorten, die ich vorher noch nie gegessen habe. Alles, was sie backt, schmeckt großartig.

Doch auch hier gibt es einen Menschen, der immer gemein zu uns ist. Ein alter Mann, der uns jedes Mal anschreit, wenn wir auf der Wiese vor seinem Balkon Fußball spielen. »Ihr Türkenkinder macht wieder den Rasen kaputt!«, ruft er dann, »haut ab in die Türkei mit eurem scheiß Fußball!« Wir machen uns einen Spaß daraus, ihn zu ärgern, tanzen vor seinem Balkon, machen ihn nach oder lachen ihn aus. Manchmal kommt er raus und rennt uns hinterher, um uns zu schlagen. »Euch Türkenkindern werde ich noch Respekt beibringen!« Wir rennen vor ihm weg und lachen uns kaputt. Einer meiner Freunde nennt ihn »Nazi-Opa« und ruft laut »Nazi, Nazi!«, wenn wir angeschrien werden. Ich weiß noch gar nicht, was Nazis sind, aber ich ahne, dass es was mit den Deutschen zu tun hat.

In unserem Innenhof spielen jeden Tag drei Dutzend Kinder. Wir sind die ganze Zeit draußen. Auf dem Spielplatz im Hof mit der Schaukel und Rutsche, dem geliebten Drehkarussell in der Mitte, wo wir uns so lange im Kreis drehen, bis uns schwindelig wird. Sind Mädchen dabei, spielen wir Mutter, Vater, Kind. Wir tun so, als seien wir eine große Familie. Die Türen zum Hof stehen immer offen. Man kann ein und aus gehen, wie man möchte. Vor allem beim Zuckerfest oder am türkischen Kinderfest liebe ich es, alle meine Freunde zusammenzutrommeln, um für Süßigkeiten an den Haustüren zu schellen. Rufen uns die Eltern zum Essen, kommen die Freunde mit. Wir essen zusammen und gehen danach wieder spielen in den Hof. Anders als bei den Deutschen, die gehen allein nach Hause und fragen nicht, ob jemand mitkommen will. Ein deutscher Freund von uns heißt Sven, sein Vater schaut uns immer beim Fußball zu und kommentiert alles. Der ist superlustig, seine Sprüche spornen uns an. Als ich einmal bei ihnen zu Hause war, sagte er mir, ich solle nach Hause gehen, weil sie zu Abend essen. Ich war total entsetzt, bei uns daheim entscheiden die Gäste, wann sie gehen. Rausschmeißen käme nicht in Frage. Den Deutschen ist das egal, was ich nicht verstehe.

Auch beim Begrüßen sind sie anders. Meine türkischen Freunde umarme ich oder wir begrüßen uns mit einem Wangenkuss. Begrüße ich meine deutschen Freunde so, dann treten sie einen Schritt zurück. Sie finden das komisch, wollen gar nicht so nah kommen. Mir ist das fremd, zu kühl. Ich bin eher herzlich und mag körperliche Nähe. Doch manchmal kann ich es auch nachvollziehen, dass unsere deutschen Freunde so sind. Denn vor allem, wenn wir Besuch haben, nervt mich dieses viele Anfassen und die Küsserei. Ich habe eine Großtante, die mich drückt, nicht loslässt und so viel küsst, als würde sie mein Gesicht ablecken wollen. Ich finde das ekelhaft, möchte das nicht. Drück ich sie weg, sagt sie: »Bist du jetzt Deutscher?« In den Momenten fühle ich mich überfallen und eingeengt. Ich möchte nicht jede Person an mich ranlassen, nur weil wir verwandt sind. Das verstehen viele aus meiner Familie nicht.

Bis zur zweiten Klasse ist unsere Kindheit im Innenhof ein absoluter Traum. Sind wir mal drinnen und zu Hause, schauen wir uns Kampffilme von Jackie Chan und Bruce Lee oder türkische Filmklassiker von Kemal Sunal an. Wir alle lieben Kemal Sunal, spielen Szenen aus den Filmen nach. Deutsche Filme dagegen langweilen mich.

Leider endet die unbeschwerte Zeit mit dem Beginn der dritten Klasse. Wir spüren den Druck unserer Eltern. Denn jetzt gibt es Noten auf den Zeugnissen. Niemand von uns darf mehr lange draußen spielen. Mich macht das traurig. Meine Eltern werden immer strenger. Meine Mutter übt mit mir jeden Abend Diktate. Wenn ich es in Deutschland zu was bringen will, muss ich die Sprache beherrschen, sagt sie. Beim Diktat kennt sie keine Gnade. Ich darf erst schlafen gehen, wenn ich null Fehler mache. Und das jeden Abend, auch am Wochenende.

Alle Eltern haben Angst, dass wir auf die Hauptschule geschickt werden. So wie es bei ihnen war. Deswegen müssen wir so viel lernen. Wir sollen die Besten in der Klasse sein. »Als Türken müsst ihr hier doppelt so viel leisten!« Die Erwartungen der Eltern werden immer krasser. Dabei entsteht nicht nur Druck, sondern sie fangen auf einmal auch an, uns zu vergleichen. »Guck! Meltem und Sedat haben eine Eins in Mathe geschrieben! Du nur eine Drei!« Schreib ich dann eine Eins in Mathe, heißt es: »Was interessiert uns, was die anderen für Noten geschrieben haben?« Weil ich gut in Deutsch bin, vergleichen andere Eltern ihre Kinder oft mit mir, was mir total unangenehm ist. »Nimm dir mal ein Beispiel an Burak!«, höre ich dann oft. Svens Vater fragt mich einmal, welche Deutschnote ich habe. Als ich ihm erzähle, dass ich im Diktat immer null Fehler habe und lauter Einsen schreibe, schimpft er vor allen anderen mit seinem Sohn: »Sogar ein Türke ist in Deutsch besser als du. Bist ein Nichtsnutz, schäm dich.« Dabei gibt sich Sven viel Mühe. Es ist seltsam, dass wir als Türken laut unseren Eltern das Doppelte leisten müssen, aber wenn wir dann bessere Noten haben, sind die Deutschen sauer.

Zu Hause vergleichen mich meine...

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