Zuckerkind - Von Stalin nach Kirgisien verbannt

Zuckerkind - Von Stalin nach Kirgisien verbannt

von: Olga Gromowa

Aufbau Verlag, 2021

ISBN: 9783841228482

Sprache: Deutsch

204 Seiten, Download: 5639 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Zuckerkind - Von Stalin nach Kirgisien verbannt



1

Spiel


Heute beim Abendbrot waren wir im Zauberland der Elfen und Gnome, wo, wie jeder weiß, Milch und Honig fließen und die Ufer aus Pudding sind. In den tiefen Tellern mit festem leuchtendem Beerenpudding und einem Ring aus Milch drum herum mussten Staudämme gebaut werden, damit Milchflüsse in Puddingbetten fließen konnten. Tut man das sorgfältig und nicht zu hastig, entsteht auf dem Teller eine Landkarte mit Seen, Flüssen, Bächen und einem Ozean drum herum. Wir bauen lange, dann vergleichen wir, bei wem es am besten aussieht: bei mir, bei Mama oder bei Papa. Papa hat es sogar geschafft, einen Puddingberg zu bauen, und behauptet, in ihm entspringe der Milchfluss. Während wir die Bilder auf den Tellern betrachten, zerfließt der Berg, und es entsteht ein trübes Meer. Mama und ich lachen, und die Njanja knurrt: »Wie die kleinen Kinder, nur Spielereien im Kopf.«

Stella mit ihren Eltern, Moskau, Frühjahr 1932.

»Na schön, Schnuffi«, sagt Papa, »schnell den Pudding aufessen und ab ins Bett.«

»Gibt’s noch ein Märchen?«

»Klar gibt’s ein Märchen. Heute bin ich dran.«

»Kannst du nicht gleich anfangen, damit ich weiß, wovon es handelt, und dann gehe ich mir die Zähne putzen und mich waschen?«

»Vor langer, langer Zeit …«

»Als die Sonne noch heller schien und das Wasser nasser war?«

»Meine Güte, wo hast du das denn her?«

»So erzählt Poljuschka ihr Märchen«, sagt Mama lächelnd.

Poljuschka ist meine Njanja. Sie nennt mich übrigens nie Schnuffi. Sie findet, das ist ein Hundename, und schimpft, wenn mich jemand so nennt. Aber Papa hat keine Angst vor ihrem Schimpfen.

»Lenkt mich nicht ab. Also … Vor langer, langer Zeit lebte in Moskau eine Familie: ein Papa, eine Mama, eine Njanja und ein ganz kleines Mädchen. Der Papa hieß … Papa. Die Mama … Der Papa nannte sie Julenka, Mamas ältere Schwestern sagten Ljusska, ihr Bruder Punetschka.«

»Der Bruder – ist das Onkel Lapa?«

»Na ja, zum Beispiel, obwohl ihn eigentlich niemand so nennt, nur ein kleines Mädchen. Dieses Mädchen aber wurde lange Zeit ganz verschieden genannt, nur nie beim Namen … Denn es hatte keinen Namen.«

»Das ist ein Märchen über mich, ja? Kommen auch Abenteuer drin vor?«

»Ja, ja. Aber erst waschen und ins Bett.«

Die Geschichten, die Mama mir vorliest oder erzählt, oft in verschiedenen Sprachen, handeln von Göttern, Helden und Zauberern. Papa dagegen erzählt selten »richtige« Märchen, also Volksmärchen oder welche aus der Literatur – er erfindet sie meistens aus dem Stegreif. Ich gehe mich schnell waschen, voller Vorfreude auf ein Märchen über mich selbst, denn die wahre Geschichte darüber, dass ich lange keinen Namen hatte und wie ich dann schließlich einen bekam, die kenne ich schon.

Alle Anzeichen sprachen für einen Jungen, und den wollten meine Eltern Genrich nennen. Und plötzlich kam vor der Zeit etwas Winziges auf die Welt, ein Achtel weniger als fünf Pfund1 schwer (so rechnete die Njanja auf alte Weise), gute vierzig Zentimeter lang, und war ein Mädchen. Die Eltern konnten sich eine ganze Weile nicht entscheiden, wie das überraschende Wesen heißen sollte.

Solange noch kein Bett für mich da war, schlief ich in einem Koffer, der auf einem großen Stuhl stand, der Deckel war an der Stuhllehne festgebunden. Und ich wurde Schnuffi, Buba oder sonst wie genannt. Doch das kleine Geschöpf musste einen Namen bekommen. Papa gefielen die einen Namen, Mama hingegen andere, und die beiden stritten endlos.

Ein Freund der Familie schlug vor: »Nennt das Mädchen Mussór – das heißt auf Türkisch ›Stern‹.«

Aber Mama wollte ihre Tochter nicht Mússor nennen, denn das bedeutet auf Russisch Müll. Meine Eltern hätten sich noch lange gestritten, wäre nicht eines Tages ein strenger Brief mit Androhung einer Strafe ins Haus geflattert, der sie ermahnte, sie hätten ihre Tochter in einem Standesamt anzumelden.

Sie gingen zu dritt hin: Papa, Mama und ihr Freund Alexander. Während die Eltern am Fenster im Flur stritten, wie ihr kleines Wunder heißen sollte, übergaben sie das Kind ihrem Freund, er sollte es halten, bis sie sich geeinigt hätten. Der Freund ging leise in die Amtsstube (aus der die Eltern eine halbe Stunde zuvor hinausgeworfen worden waren, damit sie im Flur zu Ende stritten) und meldete das Kind an, zum Glück hatte Onkel Alexander ja sowohl das Kind als auch die nötigen Papiere bei sich. Mit dem Gefühl, seine Pflicht erfüllt zu haben, riet er den Eltern, ein andermal zu Ende zu streiten, denn dieses Kind heiße nun Stella und das bedeute auf Lateinisch »Stern«.

Als die Njanja Polja ins Haus kam, erfand sie eine Koseform des Namens Stella – Elja. Von da an wurde ich von meinen Nächsten so genannt.

An Papas Gesicht kann ich mich nicht erinnern. Dafür an seine Manteltasche. Wenn ich den Arm hineinsteckte (fast bis zur Schulter), fand ich darin immer eine Leckerei. Ich erinnere mich an seine große warme Hand, an der ich mich festhielt, wenn wir an freien Tagen spazieren gingen. Und an seine Stimme – sehr tief und samtig. Und nun erzählt mir Papa ein Märchen. Wie ein kleines, aber mutiges Mädchen seine Mama vor bösen Räubern rettet und sich dabei ihren Namen verdient – Sternchen.

Papa und Mama waren beide sehr musikalisch. Mama setzte sich abends ans Klavier, und sie sangen zu zweit. Das war schön. Ich mochte es sehr, wenn sie Massenets Elegie sangen. Natürlich wusste ich damals nicht, was eine Elegie ist und wer Massenet war, ich hielt das für ein einziges langes Wort »Massneelegie«, aber das Wort war genauso schön wie die Musik.

Meine Eltern arbeiteten beide, und sie arbeiteten viel. Aber wenn sie zu Hause waren und ich noch nicht schlief, schien ihre ganze Zeit mir zu gehören. Nie sagten sie: »Geh weg«, »Beschäftige dich mit deinen Spielsachen«, »Ich hab keine Zeit« oder »Darüber reden wir später«. Heute kommt es mir vor, als hätten wir ständig gespielt.

Stellas junge Eltern, um 1930.

Neben Russisch sprachen meine Eltern mit mir seit meiner frühesten Kindheit auch Deutsch und Französisch, und mit drei Jahren verstand ich alle drei Sprachen gleich gut und sprach sie bald mühelos. Nicht nur russische, sondern auch deutsche und französische Märchen und Geschichten wurden mir in der Originalsprache erzählt.

Meine Mama konnte sehr gut zeichnen und malte beim Erzählen oft gleich Bilder zu ihren Geschichten.

Ich bekam häufig Geschenke – sie waren stets in Papier eingewickelt und mit Bindfaden zugebunden, den ich selbst aufschnüren musste.

Einmal brachte mir Papa ein riesiges Paket mit.

Er stellte es auf den Boden und sagte: »Was mag da wohl drin sein? Schnür es sorgfältig auf und schau nach.«

Zuerst untersuchte ich Papas Manteltasche – darin lag ein kleiner rotbäckiger Apfel. Dann ging ich um das Paket herum. Es stand auf dem Fußboden, war sehr lang, höher als ich, und wackelte leicht. Ich musste alle Knoten aufbinden und nachschauen …

»Na los, kleiner Mensch, keine Bange!«

Stella mit knapp drei Jahren, Mai 1934.

Das waren sehr wichtige Worte. Wenn meine Eltern mit mir zufrieden waren, sagten sie »guter kleiner Mensch«, das höchste Lob war »guter Mensch«.

Der Begriff »guter Mensch« umfasste vieles.

Ein guter Mensch macht alles selbst.

Ein Mensch kann alles selbst, anfangs mithilfe eines anderen, dann allein. Mit dreieinhalb Jahren zum Beispiel kann sich ein Mensch allein anziehen und waschen. Und wenn er etwas älter ist, spielt er natürlich auch allein, weil er schon ziemlich viel weiß und sich aus allen Geschichten, die er kennt, verschiedene eigene ausdenken kann.

Ein guter...

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