'Ich habe keinen einzigen Traum aufgegeben' - Ernst Augustin zum Gedächtnis

'Ich habe keinen einzigen Traum aufgegeben' - Ernst Augustin zum Gedächtnis

von: Lutz Hagestedt

Verlag C.H.Beck, 2022

ISBN: 9783406784088

Sprache: Deutsch

352 Seiten, Download: 1518 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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'Ich habe keinen einzigen Traum aufgegeben' - Ernst Augustin zum Gedächtnis



Wolfgang Beck

Trauerrede für Ernst Augustin (am 5. November 2019)


Meine Damen und Herren, liebe Freunde Ernst Augustins, liebe Mary Banbury,

ich spreche hier als Verleger Ernst Augustins, d.h. ich sollte besser sagen: als sein Verleger in den letzten zwei Jahrzehnten. Denn im Jahr 2002 wechselte Ernst Augustin von Suhrkamp zu C.H.Beck, ein großer Glücksfall für unseren Verlag. Mittler dieses Wechsels – nachdrücklicher Dank sei ihm hierfür ausgesprochen – war Martin Hielscher, Lektor in unserem Verlag sowie Kenner und Verehrer Ernst Augustins seit langem. Siebzehn Verlegerjahre mit Ernst Augustin sind es somit für mich, eigentlich eine eher kurze Zeit, misst man sie an der Lebensspanne des bereits seit den frühen sechziger Jahren so wunderbar produktiven Autors.

Die fast schon nachbarliche Münchner Nähe seines neuen Verlags erleichterte die Zusammenarbeit. Persönliche Treffen waren häufig, ebenso Gespräche am Telefon, auch zu Lektorats- und Redaktionsfragen. Alles vollzog sich in direktem mündlichen Austausch, ich konnte zu meiner Überraschung keinen einzigen Brief Ernst Augustins in unserer Ablage finden.

Sein Einstandswerk in unserem Verlag mit hohem Potential an Lese- und Lachvergnügungen war ein – man darf sagen – hochkarätiger München-Roman mit dem Titel «Schule der Nackten». Ohne Ortswechsel, ausschließlich in Deutschlands südlichster und wärmster Großstadt und dort im Besonderen im hochsommerlichen FKK-Gelände eines großen Münchner Freibads spielt sich das Geschehen ab, das seinen Protagonisten in ein Wechselbad heftiger Erlebnisse stürzt.

In München lebten Ernst und Inge Augustin damals schon seit vierzig Jahren. Es war ihr bewusst gewählter Lebensmittelpunkt, den sie trotz vieler Reisen und Abwesenheiten zu schätzen wussten. Und den sie in künstlerischen Visionen ausschmückten und verschönerten. In Ernst Augustins Worten: «Wenn an warmen Sommerabenden die zweihundert Türme schwarz vor den apfelsinenfarbigen Alpen stehen. Und sich durch eine Luftspiegelung auch noch das abendliche Verona über die Alpen hereinspiegelt – an vier Tagen sind sogar die Glocken zu hören – […], dann möchte man doch noch ein bisschen dableiben.»

Ja, dazubleiben, das hieß insbesondere, sich wohnlich einzurichten in einem Haus, von dem wir alle wissen, dass es zu einem Gesamtkunstwerk ohnegleichen ausgestaltet war, an dem vor allem auch Inge Augustin künstlerische Hand angelegt hatte:

mit phantastischen Ausmalungen in perfekter Trompe-l’œil-Ausführung, mit schönsten Imaginationen italienischer Architektur und südländisch-tropischer Naturlandschaften. – – Inge Augustin war es auch, die dem Verlag die Gemälde-Vorlagen für die Umschlag-Gestaltungen der Bücher ihres Mannes lieferte, wie er es sich ausdrücklich gewünscht hatte. Dabei ging es nicht nur um die neuen Bücher, sondern auch um sukzessiv erscheinende Ausgaben aller älteren Werke Ernst Augustins. Bis zu seinem 80. Geburtstag im Herbst 2007 lag bereits eine höchst ansehnliche achtbändige Werkausgabe vor, an der ihr Autor deutlich sichtbare Freude zeigte. Einige frühere Romane wie «Das Badehaus» und «Mamma» waren dort in überarbeiteter Form und mit verändertem Titel enthalten. Mit zwei weiteren älteren Werken, die erst später neu aufgelegt wurden, und mit den Romanen «Robinsons blaues Haus» und «Das Monster von Neuhausen», die noch folgten, ergibt sich ein in unserem Verlag lieferbares Gesamtwerk von zwölf Büchern – ein Œuvre von einzigartigem erzählerischen Gehalt, wie alle Ernst-Augustin-Leser wissen.

Den 80. Geburtstag hatten wir nicht etwa im Münchner Literaturhaus, sondern mit einer Salsa-Party im Szeneclub «Ampère» gefeiert: Die Stimmung war vergnügt, heiter, ja ausgelassen, schöner hätten wir es uns nicht wünschen können. Zwar war zum Jahrestag kein neues Buch erschienen, wie wir im Geheimen erhofft hatten, doch arbeitete Ernst Augustin an einem solchen und sprach mit uns darüber. Als seinen «Faust» oder «Fäustchen» kündigte er den Roman an, in dem er einige seiner wichtigsten Lebensthemen zu verarbeiten gedachte. Doch dann, etwa anderthalb Jahre später, schlug das Schicksal zu. Die Operation eines gutartigen Gehirntumors verunglückte und ließ von Ernst Augustins Sehkraft nur noch minimale Reste übrig. Das Roman-Manuskript war bis dahin zwar zu einem vorläufigen Abschluss gelangt. Doch gehörte es zu Ernst Augustins Arbeitsweise, an seinen Texten zu feilen und sie mehrfach zu revidieren. Um das Manuskript nun trotz verlorenem Augenlicht in eine endgültige Gestalt zu überführen, die vor dem kritischen Urteil des Verfassers Bestand hatte, bedurfte es nicht nur gehöriger Motivation, woran es zum Glück nicht fehlte, sondern auch einer speziellen optischen Apparatur, die dazu diente, die Hand- und Maschinenschrift um ein Vielfaches zu vergrößern. Das Ergebnis freilich hätte überzeugender nicht ausfallen können. Mit «Robinsons blauem Haus» ist Ernst Augustin erneut ein meisterliches Werk gelungen: kein «Altersroman», obwohl der Tod in ihm eine wichtige Rolle spielt, vielmehr ein von jeglicher Schwermut freies Buch, das sprüht von Lebendigkeit, Geist, Witz und Komik und zusammengehalten wird von einer ebenso faszinierenden wie ungreifbaren Erzählerfigur, die changiert zwischen Identitäten, Orten und Lebensaltern.

Ernst Augustins entspannter, lockerer Erzählstil, die unbeschwerte Mündlichkeit, die für ihn charakteristisch ist, bei gleichzeitiger Blick- und Wahrnehmungsschärfe, floss dem Verfasser nicht von selbst aus der Feder. Er arbeitete im Detail an seinen Texten und bezeichnete sich als «Perfektionisten». Seine wunderbaren und in jedem Roman und in jeder Geschichte neu erfundenen Ich-Erzähler schildern das Geschehen nicht aus einer Perspektive distanzierten Durch- und Überblicks, sondern erleben es als unmittelbar Beteiligte, Betroffene und Agierende und sind dabei einem Strom wechselnder Emotionen und Gestimmtheiten ausgeliefert. Alles passiert gleichzeitig: Agieren, Reagieren, Beobachten, Wahrnehmen, Empfinden, Erzählen. Dies in einer leichtfüßigen, ungezwungenen und dennoch exakt-anschaulichen Sprache zu bewerkstelligen, das vermochte Ernst Augustin wie kein anderer.

Als Überschrift über seiner Kunst könnte der geflügelte Titel eines schon vor zweihundert Jahren geschriebenen Theaterstücks stehen: «Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung». Doch Wichtiges bleibt dabei ausgeblendet: Ernst Augustins Weltneugier und Weltläufigkeit, die sein Schreiben auszeichnet und so selten ist in der deutschen Literatur, und vor allem der unerhörte Erfindungsreichtum in seinen Texten, wo das Reale sich verbindet mit dem Surrealen, das Wirkliche verschmilzt mit dem Phantastischen, Autobiographisches durchsetzt ist von Erdichtetem, und darüber hinaus allerhand Merkwürdigkeiten ihr höchst anregendes Spiel treiben. «Die Phantasie ist mein Werkzeug», so wird Ernst Augustin zitiert. Zugleich erzählt er, dass er schon in der Kindheit unentwegt Traumwelten in seinem Kopf entworfen habe. Im bekannten Fragebogen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung äußerte er auf die Frage «Welchen Lebenstraum haben Sie aufgegeben?»: «Ich habe viele Leben gelebt und keinen einzigen Traum aufgegeben. Ich bin zu beneiden» und bezog sich dabei sowohl auf sein literarisches Werk wie auf sein Leben nach der Erblindung. Denn mit dem Verlust der Außensicht hörte das innere Sehen und Imaginieren ja nicht auf, im Gegenteil: Es gewann zusätzlich an Kraft und Bedeutung. Beglückt konnte Ernst Augustin hierüber sprechen: «Ich träume in ungeheuer brillanten Farben – und teilweise so schön, dass ich in die Knie gehe, weil ich während des Traumes denke, ich kann wieder sehen. Da bauen sich Städte von einer ungeheuerlichen Schönheit auf. Ich habe solche schönen Städte nie in meinem Leben gesehen.»

Und im gleichen Zuge äußert er: «Mein Grundgefühl ist, in einer großen Traumblase zu leben. Das Leben ist ein Traum in einem Traum.» Und der Tod, so fährt er fort, führe zu einem Aufwachen in einem neuen Traum. Hier und in seinen Büchern wird deutlich: Die Auffassung eines endgültigen Endes war Ernst Augustin fremd. Sie war ihm, so darf man es vielleicht deuten, zu unkünstlerisch, nicht zu vereinbaren mit seiner Vorstellung einer Welt, der eine Verschönerung stets gut tut.

Das durchaus faszinierte Erleben seiner bewegten inneren Bilder und imaginären Welten half ihm, trotz schwerer physischer Einschränkungen, zu einer Art von Lebensfreude, scheint mir, bis zuletzt. Als meine Frau und ich einen Besuchswunsch bei Mary Banbury ankündigten, gab sie uns grünes Licht mit den Worten: «Ernst is physically weaker than the last time you saw him. […] But his...

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