Sing backwards and weep - Eine Autobiografie

Sing backwards and weep - Eine Autobiografie

von: Mark Lanegan

Heyne, 2022

ISBN: 9783641298845

Sprache: Deutsch

448 Seiten, Download: 1980 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Sing backwards and weep - Eine Autobiografie



1

JUGENDJAHRE EINES JUNKIES

ICH KAM IM NOVEMBER 1964 MIT DER NABELSCHNUR um den Hals per Kaiserschnitt auf die Welt und wuchs dann auf der falschen Seite der Cascade Mountains im kleinen Städtchen Ellensburg im Osten des Bundesstaates Washington auf. In meiner Familie gab es Bergarbeiter, Holzfäller, Schmuggler, Kleinbauern aus South Dakota, Kriminelle, Sträflinge und Hillbillys der übelsten Sorte. Sie stammten aus Irland, Schottland und anderen Teilen Großbritanniens. Meine Großmutter mütterlicherseits war in Wales geboren, ihre Eltern waren echte Waliser. Die Namen meiner Eltern, Onkel, Tanten und Großeltern wanderten direkt aus den Appalachen von einem Trailerpark zum nächsten bis in die Wüste Ost-Washingtons. Namen wie Marshall und Floyd, meine Großväter, oder Ella und Emma, meine Großmütter. Roy, Marvin und Virgil, meine Onkel. Margie, Donna und Laverne, meine Tanten. Dale, mein Vater. Floy, meine Mutter. Meine ältere Schwester nannten sie Trina. Ich kam als Einziger mit einem nicht-hinterwäldlerischen Weißbrot-Spießernamen davon, einem Namen, den ich erst hasste und für den ich dann Gott dankte, als ich erfuhr, dass meine Mutter mich ursprünglich Lance nennen wollte. Lance Lanegan. Etwas Lächerlicheres, Erniedrigenderes konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, und ich war meinem Vater dankbar, dass er es verhindert hatte. Danach konnte ich mit Mark leben. Aber es war mir lieber, wenn man mich mit meinem Nachnamen ansprach, Lanegan. Wenn ich jemanden kennenlernte, stellte ich mich immer mit meinem zweiten Vornamen vor, William. Als wäre es Gedankenübertragung, nannten mich die meisten Lehrer, Trainer und Bekannten trotzdem Lanegan.

Meine Eltern stammten beide aus extrem ärmlichen, entbehrungsreichen Verhältnissen. Ihr Leben war schon in jungen Jahren von Tragödien geprägt. Beide waren sie in ihrer jeweiligen Großfamilie die Ersten, die aufs College gingen. Beide wurden Lehrer. Die Schule war für mich ein absolutes No-Go.

Ich saß da, gefangen hinter meinem Tisch, und machte mir erst gar nicht die Mühe zuzuhören. Stattdessen träumte ich von meiner ersten Liebe: Baseball. Nach der Schule spielte ich stundenlang auf dem Nachbarsgrundstück, bis es irgendwann zu dunkel war. Dann schlurfte ich nach Hause und ließ die unvermeidlichen Schimpftiraden meiner Mutter über mich ergehen. Vor allem regte sie sich darüber auf (auch wenn ihre Angriffe in alle Richtungen gingen), dass ich nie zu Hause war. Dabei war sie selbst der Grund dafür. Um ihren Attacken aus dem Weg zu gehen, suchten meine Schwester Trina und ich immer wieder nach Ausreden, nicht nach Hause zu müssen. Soweit ich zurückdenken kann, gingen Trina und ich uns außerdem auch gegenseitig an die Gurgel. Da mein Vater kaum zu Hause war, war ich den beiden Frauen ständig ausgeliefert. Für meine Mutter gab es offenbar nichts Schöneres, als mich zu schikanieren und alles, wofür ich mich interessierte, in den Dreck zu ziehen. Während sie mir eine scheuerte, war einer ihrer Lieblingssprüche: »Du bist nicht mein Sohn!« Ich wünschte nur, sie hätte recht gehabt. Als Sechsjährige hatte sie mit ansehen müssen, wie ihr Vater im Vorgarten ihres Elternhauses ermordet wurde, war dann unter Männern in Holzfällerlagern aufgewachsen, wo ihre Mutter als Köchin arbeitete, und hatte sich schließlich zu einem gehässigen Menschen entwickelt. »Eine verdammte Hexe«, wie mein Vater manchmal sagte.

Als meine Eltern sich trennten, war für mich klar, dass ich bei meinem Vater bleiben würde. Obwohl er immer eine tiefe, stille Traurigkeit ausstrahlte, war er ein herzensguter, fürsorglicher Mann, der mich allerdings schon damals kaum unter Kontrolle bekam.

Ich klaute Snickers, Milky Way und andere Riegel aus dem Laden gegenüber meiner Schule und verkaufte sie an meine Klassenkameraden. Ich war besessen von diesem Spiel, bei dem man Münzen gegen eine Mauer warf, und wer am nächsten dran war, bekam das Geld. In jeder Pause trommelte ich meine Mitschüler zusammen und war sauer, wenn es klingelte und wir wieder in die Klasse mussten. Der Vater von einem Freund tingelte durch Bars und Kneipen und verkaufte den Betreibern Lotteriebretter und Spielautomaten, an denen die Betrunkenen ihre Dollars loswerden konnten. An einem Wochenende übernachtete ich bei meinem Freund, als seine Eltern weg waren.

»Hey, Matt, lass mal das Zeug von deinem Dad auschecken.«

Das war das Stichwort. Wir kletterten durch ein Fenster in den Schuppen, in dem er seine Ware lagerte. Ich schnappte mir ein paar von seinen Lotteriebrettern und nahm sie mit nach Hause. Schon damals litt ich an diesem verteufelten Zwangsverhalten, und wann immer sich die Gelegenheit ergab, musste ich zuschlagen. Genug Zeit hatte ich, also machte ich mich an die Arbeit. Während der nächsten Tage hebelte ich mit einem Schlitzschraubenzieher die Lotteriebretter auf, ganz vorsichtig, möglichst ohne sichtbare Schäden zu hinterlassen. Stundenlang rollte ich die kleinen Zettel auseinander, holte die 20er-, 50er- und 100er-Dollar-Gewinne raus und steckte die 1er, 2er, 5er und die Nieten wieder zurück. Dann klebte ich die beiden Hälften wieder zusammen. Und zwar so sauber, dass man absolut nichts merkte. Ich lief mit den Spielbrettern in meiner Sporttasche den ganzen Tag durch die Schule und ließ die Kids für einen Dollar ihr Glück versuchen. Natürlich gewann niemand größere Summen, die hatte ich ja vorher alle entfernt, zur Freude meines Freundes Matt, der sich königlich amüsierte.

Diese zwanghafte Abzockerei beanspruchte mein gesamtes Denken und Handeln. Es war das Erste, woran ich dachte, wenn ich aufwachte, und das Letzte, bevor ich ins Bett ging. Bei einigen Mitschülern machte ich mich nicht unbedingt beliebt damit. Meine aggressive Art, ihnen ihr Geld abnehmen zu wollen, war zu viel für sie. Es spielte keine Rolle, wie viel oder wenig Geld ich hatte. Ich heckte ständig etwas aus, um an ein paar Scheine zu kommen, nur dann fühlte ich mich lebendig. Es sollte noch schlimmer kommen.

In der Junior High fing ich an, meinem Alten Bierdosen aus seinen endlosen Beständen zu klauen und in meiner Tasche in die Schule zu schmuggeln. Er war ausgebildeter Tischler und hatte im Keller neben meinem Zimmer eine komplette Bar und einen Raum zum Kartenspielen mit seinen Jungs eingerichtet. Das Holz bekam er umsonst, wenn er in der Gegend Scheunen abriss Die ergatterten Biere trank ich zwischen den Unterrichtsstunden in einer Hausmeisterkammer oder in der Pause im Gebüsch auf dem Schulhof. Dann fing ich an, Gras zu rauchen, als einer von insgesamt drei Jugendlichen in der Mittelstufe meines kleinen Städtchens. Außerdem wurde ich zum Dieb. In jeder Stunde bat ich, auf Toilette gehen zu dürfen, lief dann in die Umkleide der Sporthalle und durchsuchte die Hosentaschen der Schüler, die ihre Sachen nicht einschlossen. Kleingeld, Scheine, ich nahm alles, was ich kriegen konnte. Die einzige Stunde, in der ich nichts stahl, war mein eigener Sportunterricht. Erwischt wurde ich nie.

Mein Vater verwendete nicht viel Zeit auf meine Erziehung. Da er selbst Unmengen trank und sein Leben lang am liebsten die ganze Nacht hindurch mit seinen Buddys Karten spielte oder Frauen nachstellte, gab er es schnell auf, mich zu kontrollieren. Also streifte ich fröhlich und ungehemmt durch die Gegend. Nach den unangenehmen Jahren unter der Fuchtel meiner Mutter liebte ich meinen Vater für die neu gewonnene Freiheit, meinen jeweiligen inneren Drang ausleben zu können, meine Begeisterung, meine aufkeimenden perversen Neigungen. Ich kam mir vor wie das glücklichste Kind weit und breit, keine Regeln, keine Uhrzeiten, kein Nichts. Mit zwölf war ich ein notorischer Zocker, Jungalkoholiker, Dieb und Pornofan. Ich besaß eine beeindruckende Sammlung an Pornoheften. Die meisten hatte ich aus den Müllcontainern der Studentenwohnungen auf dem Campus gefischt. Obwohl ich allein mit meinem Vater und ein paar Hunden in einem großen Haus lebte, wusste ich nicht, wo ich sie lagern sollte.

Schon als meine Eltern noch zusammen waren, musste ich alles verstecken, was nicht für fremde Augen bestimmt war. Als ich neun war, fand meine Mutter eine Packung unbenutzter Kondome, die ich aus einem Mülleimer geholt...

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