Der Horror der frühen Chirurgie - Von der Autorin des Bestsellers »Der Horror der frühen Medizin«

Der Horror der frühen Chirurgie - Von der Autorin des Bestsellers »Der Horror der frühen Medizin«

von: Lindsey Fitzharris

Suhrkamp, 2022

ISBN: 9783518774441

Sprache: Deutsch

323 Seiten, Download: 1871 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Der Horror der frühen Chirurgie - Von der Autorin des Bestsellers »Der Horror der frühen Medizin«



Prolog

»Ein abstoßendes Ding«


20. November 1917

Der Osthimmel leuchtete feuerrot und golden, als über Cambrai der Morgen anbrach. Die französische Kleinstadt, etwa vierzig Kilometer vor der belgischen Grenze, war eine wichtige Versorgungsstelle für die deutsche Armee. Auf einer nahen Anhöhe lag Soldat Percy Clare vom 7. Bataillon des East Surrey Regiments neben seinem Zugführer im feuchten Gras und wartete auf das Signal zum Sturm.

Eine halbe Stunde vorher hatte er das riesige Aufgebot an Panzern gesehen, die sich in breiter Front durch das matschige Gelände auf die von Stacheldraht umgebene deutsche Defensivstellung zubewegten. Die britischen Truppen waren im Schutz der Dunkelheit schnell vorangekommen. Doch was zunächst nach einem sicheren Sieg aussah, entwickelte sich schnell zu einem blutigen Gemetzel mit furchtbaren Verlusten auf beiden Seiten. Als Clare sich im Morgengrauen auf den Angriff vorbereitete, war die verwüstete Landschaft bereits mit toten und verwundeten Soldaten übersät. »Ich fragte mich, ob ich noch einmal die Sonne über den Schützengräben aufgehen sehen würde«, notierte er später in seinem Tagebuch.

Der Tod war kein Unbekannter für den sechsunddreißigjährigen Soldaten. Ein Jahr zuvor hatte er monatelang in den Schützengräben an der Somme verbracht, wo sich ermüdende Phasen des Nichtstuns mit plötzlichem massivem Beschuss und nächtlichen Überfällen abwechselten. Alle paar Tage kamen Wagen, um Verpflegung gegen Leichen zu tauschen. Aber die Toten waren einfach zu viele, um sie komplett abzutransportieren. »Sie lagen in den Gräben, so, wie sie gestorben waren«, erinnerte sich ein Soldat. »Man sah sie nicht nur, man rutschte auch auf ihnen aus, wenn man auf sie trat.«

Verwesende Leichen waren allgegenwärtig im Frontalltag. Sie säumten die Grabenwände, verengten die Gänge. Arme und Beine ragten über die Brustwehr. Die Leichen wurden auch dazu verwendet, um Granattrichter in strategisch wichtigen Straßen zu füllen. »Sie schaufelten alles Mögliche in den Krater, dann warfen sie tote Pferde und Leichen obendrauf […], bis das Loch zu war und sie weiterfahren konnten«, erinnerte sich ein Soldat. Taktgefühl und Respekt gingen verloren, während die Beerdigungskommandos sich mühten, mit den Opferzahlen Schritt zu halten. Tote hingen wie Wäschestücke über dem Stacheldraht, bedeckt mit einem zentimeterdicken schwarzen Pelz aus Fliegen. »Am schlimmsten«, erinnerte sich ein Infanterist, »waren die Würmer, die in Massen aus den Leichen krochen.«

Zu dem schrecklichen Anblick, den die Toten boten, kam der fürchterliche Gestank. Der ekelhaft süßliche Geruch von faulem Fleisch hing im Umkreis von Kilometern in der Luft. Nicht selten roch ein Soldat die Front, bevor er sie sah. Der Gestank haftete an dem alten Brot, das er aß, dem abgestandenen Trinkwasser, seiner zerschlissenen Uniform. »Wissen Sie, wie eine tote Maus riecht?«, fragte Lieutenant Robert C. Hoffman, ein US-amerikanischer Veteran des Ersten Weltkriegs, als er seine Landsleute zwei Jahrzehnte später davor warnte, in den Zweiten einzutreten. »Dann haben Sie eine ähnlich gute Vorstellung davon, wie ein Haufen seit Langem toter Soldaten riecht, wie ein Sandkorn Ihnen eine Vorstellung von den Stränden Atlantic Citys vermittelt.« Sogar die Erkennungsmarken, die den Toten vor dem Begräbnis abgenommen wurden, erinnerte sich Hoffman, »stanken so entsetzlich, dass einige Offiziere sich übergeben mussten.«

Clare hatte sich an die Toten gewöhnt, aber nicht an die Sterbenden. Das unvorstellbare Leid, das er gesehen hatte, hatte sich tief in sein Gedächtnis gegraben. Einmal war er in einem Schützengraben auf zwei schwer verletzte deutsche Soldaten gestoßen, beide mit aufgerissener Brust. Sie sahen einander verblüffend ähnlich, was Clare zu der Annahme veranlasste, dass es sich um Vater und Sohn handelte. Ihr Anblick ließ ihn nicht mehr los: »Die Gesichter der beiden armen Kerle waren so gespenstisch bleich […], der Blick so erfüllt von Schmerz, Grauen und Angst, vielleicht um einander.« Clare wartete bei den Verletzten auf medizinische Hilfe, doch schließlich musste er weiter. Später erfuhr er, dass ein Kamerad namens Bean die beiden nach seinem Weggang mit dem Bajonett getötet hatte. »Ich war zutiefst aufgebracht«, schrieb Clare in sein Tagebuch. »Ich sagte ihm, dass er den Krieg nicht überleben werde, dass Gott eine so feige und grausame Tat gewiss nicht ungestraft lassen werde.« Wenig später entdeckte Clare die halb verweste Leiche seines Kameraden in einem Schützengraben.

Als Clare jetzt den Blick vom Hügel aus über das Schlachtfeld schweifen ließ, fragte er sich, welche neuen Schrecken ihn wohl erwarteten. In der Ferne hörte er das leise Stakkato der Maschinengewehre und das Pfeifen fliegender Granaten. »Beim Aufprall«, schrieb Clare, »schien die Erde zu beben, zuerst mit einer heftigen Erschütterung, als schreckte ein Riese aus dem Schlaf auf, dann mit einem andauernden Zittern, das sich auf unsere liegenden Körper übertrug.« Kurz darauf gab sein Zugführer das Signal.

Es war so weit.

Clare pflanzte das Bajonett auf sein Gewehr, dann standen er und die anderen Männer aus seinem Zug vorsichtig aus dem Gras auf. Auf dem Weg den ungeschützten Hang hinunter kamen sie an zahlreichen Verwundeten mit angstbleichen Gesichtern vorbei. Plötzlich explodierte weiter unten eine Granate und hüllte die Umgebung in dichten, schwarzen Rauch. Als der Rauch sich lichtete, sahen sie, dass der Zug vor ihnen ausgelöscht worden war. »Nach ein paar Minuten gingen wir weiter und stiegen über die verstümmelten Leichen unserer armen Kameraden«, schrieb Clare in sein Tagebuch. Ein Toter fiel ihm besonders auf, denn er war völlig nackt. »Die gesamte Kleidung war ihm vom Leib gerissen worden […], ein sonderbarer Effekt von Sprengstoffexplosionen.«

Clares Zug rückte an den Toten vorbei auf das Angriffsziel zu: einen schwer befestigten Schützengraben, gesichert von einem breiten Stacheldrahtgürtel. Als sie sich der Stellung näherten, nahmen die Deutschen sie unter Beschuss. Maschinengewehre feuerten von verschiedenen Positionen gleichzeitig. Auf einmal fühlte sich Clare jämmerlich schlecht vorbereitet. »Wie absurd all das doch schien: Eine schmale Reihe Soldaten rückte gegen diese enorm starke Verteidigungsanlage vor, aus der immer massiver geschossen wurde.«

Clare kam mit dem schweren Tornister, den alle Infanteristen tragen mussten, nur langsam voran. In den bis zu fünfundzwanzig Kilo schweren Tornistern befand sich alles, was ein Soldat im Einsatz brauchte, von Munition und Handgranaten bis zu Gasmaske, Schutzbrille, Schaufel, Drahtzange und Trinkwasser. Clare schnitt sich durch den Stacheldraht, wobei er sich dicht am Boden hielt, um dem Kugelhagel auszuweichen.

Dann, etwa siebenhundert Meter vor dem Schützengraben, verspürte er einen heftigen Schlag im Gesicht. Eine Kugel war durch seine Wange geschlagen und auf der anderen Seite wieder ausgetreten. Blut strömte ihm aus Mund und Nase, tränkte seine Uniform. Clare schrie, aber der Schrei blieb stumm. Sein Gesicht war so schlimm verletzt, dass es sich nicht einmal vor Schmerz verziehen konnte.

Ab dem Moment, als an der Westfront das erste Maschinengewehr ratterte, stand eines fest: Die Fortschritte in der Militärtechnologie stellten die Medizin vor ungeahnte Herausforderungen. Kugeln sausten mit furchterregender Geschwindigkeit durch die Luft. Granaten besaßen eine Sprengkraft, die Soldaten über das Schlachtfeld schleuderte wie Stoffpuppen. Munition mit Magnesiumzündung explodierte erst, wenn sie ins Fleisch eingedrungen war. Granatsplitter, oft mit keimbelastetem Schlamm verunreinigt, fügten ihren Opfern furchtbare Verletzungen zu. Knochen wurden zerschmettert, Körper durchbohrt und Gliedmaßen abgerissen. Gesichtsverletzungen waren oft besonders traumatisch. Nasen wurden weggesprengt, Kiefer zertrümmert, Zungen und Augen herausgerissen. Manchmal wurden ganze Gesichter zerstört. Eine Frontkrankenschwester formulierte es so: »Die Heilkunde stand der Wissenschaft der Zerstörung ratlos gegenüber.«

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