Samson und Nadjeschda

Samson und Nadjeschda

von: Andrej Kurkow

Diogenes, 2022

ISBN: 9783257613056

Sprache: Deutsch

368 Seiten, Download: 2883 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Samson und Nadjeschda



Am neunten Tag nach der Ermordung seines Vaters betrachtete Samson sich im Spiegel, die eingesunkenen Augen, die eingefallenen Wangen, den zerfransten Verband.

Die Tage waren wie das Regenwasser am Wladimir-Hügel vorbeigeströmt, laut unter den Füßen fortgerauscht. Samson hatte das Haus dabei gar nicht verlassen, hatte nur im Arbeitszimmer des Vaters oder im Wohnzimmer aus den Fenstern geschaut. Die Fenster seines Schlafzimmers gingen, so wie die Fenster im Zimmer seiner Schwester Verotschka und dem der Eltern, zum Hof hinaus, auf die noch kahlen Äste des alten Ahorns. Verotschkas Zimmer gab es jetzt gleichsam nicht mehr. Seine Tür wurde vollständig vom Buffet versperrt. Die Tür zum Schlafzimmer der Eltern hatte Samson vor zwei Tagen versteckt, sie befand sich jetzt hinter dem Schrank, den er davorgeschoben hatte. In diesen vor der Außenwelt geschützten Zimmern verbarg sich der Schmerz seiner Verluste. Und so fiel es Samson ein wenig leichter, an seine Eltern und seine kleine Schwester zu denken, die nicht mehr da waren.

Nasser Schnee wechselte sich mit Regen ab, hin und wieder wurde das Schmatzen der Füße in den Pfützen vom Klappern der Hufeisen auf dem Pflaster übertönt, und manchmal erhob sich wie ein Wind das Geräusch eines Motors, in dem dann für kurze Zeit alles andere unterging.

Nachdem er einen Teller Haferschleim vom Vortag gegessen hatte, der ihm in den vergangenen Tagen schon über geworden war, bürstete Samson im Flur den Mantel seines Vaters ab und schlüpf‌te hinein. Wieder warf er einen Blick in den Spiegel. Nein, auch der Mantel machte ihn dem Vater nicht ähnlich, auf dessen Gesicht Weisheit und Selbstvertrauen geleuchtet hatten, zugleich mit der Gutmütigkeit, die immer im Blick seiner braunen Augen gelegen hatte. Der Mantel unterstrich mit seiner soliden Respektabilität nur den Gegensatz zwischen ihm und Samsons verschreckter, unrasierter Visage.

Er hängte den Mantel zurück in den Schrank, aber die Gedanken an den Vater, die ihn angemessenerweise am neunten Tag der Seelenreise des Toten überkamen, verlangten irgendein Handeln. Auf den Schtschekawiza-Friedhof zum Grab fahren? Nein, den Gedanken strich Samson sofort. Das war weit und gefährlich. Selbst wenn den ganzen Weg entlang Rotarmisten mit Gewehren postiert wären, war es noch gefährlich! Wer wusste, was ihnen durch den Kopf ging und in wem sie plötzlich einen Feind sahen? Sie konnten ja auch in ihm einen solchen erblicken und ihn erschießen! In eine Kirche gehen und eine Kerze aufstellen? Das konnte er natürlich tun, aber weder der Vater noch er selbst waren besonders fromm gewesen. Nur die Mutter war an den Feiertagen in die Gottesdienste gegangen und hatte sich selbst dann geniert, es anzukündigen oder davon zu erzählen.

Samson holte das Portemonnaie seines Vaters hervor, setzte sich an den Schreibtisch und lauschte den Klängen der Schiljanskaja, die durch die geschlossene Fensterscheibe hereindrangen. Er zog Kerenski- und Duma-Rubel heraus und zählte die Scheine. Drei Visitenkarten, ein Mitgliedsbüchlein der Kiewer Gesellschaft zur richtigen Jagd, die mehrfach gefaltete Quittung des Schneiders über den Erhalt der vollständigen Bezahlung für den Stoff und das Nähen eines Anzugs, mit einer Bestätigung aller dafür genommenen Maße, ein paar Stempelmarken für das Entrichten verschiedener Zölle und Gebühren, eine Fotografie seiner Mutter im Oval.

Am Vorabend hatte die Witwe des Hausmeisters bei ihm an der Tür geklopft und mitgeteilt, dass im Hinterhaus eine Bäuerin Milch und Butter verkauf‌te. Er hatte im Dunkeln noch hineilen und ein halbes Pfund Butter und einen Liter Milch kaufen können. Als anschließend unter seinem Fuß die unterste Stufe der Holztreppe quietschte, genau vor der Hausmeisterwohnung, lud ebendiese Witwe, eine etwa fünfundvierzigjährige Frau, die gern dezente, billige Kopftücher trug, ihn zu sich in ihre Küche ein. Dort hing ein schrecklicher, intensiver Geruch in der Luft, als hätte man stundenlang Zwiebeln gebraten. Aber klaglos nahm Samson die Einladung an, sich mit ihr an den Tisch zu setzen und einen Tee zu trinken.

»Du bist doch jetzt Waise«, sagte sie mitleidig und ein wenig fragend. »Lange darf das aber nicht so bleiben. Das ist schädlich.«

»Was soll ich denn machen?«, fragte Samson zurück, einfach, um ihre mitfühlende Erörterung seiner Lage, in die das Schicksal ihn gebracht hatte, in Gang zu halten.

»Heiraten«, riet sie entschieden. »Die Ehe macht dem Waisentum ein Ende. Auch mit der Ernährung kommt dann alles in Ordnung.« Sie blickte ihm kritisch ins Gesicht. Offenbar rief das Eingefallene und Unrasierte seiner Wangen diesen Blick hervor. »Wenn du Glück mit der Ehefrau hast, dann ist es mit deinen Leiden vorbei …«

»Ich bin noch jung«, sagte Samson nach kurzem Überlegen. »Es ist zu früh für mich.«

»Wieso zu früh?« Sie war nicht einverstanden. »Ich war vierzehn, als ich geheiratet habe!«

Er trank seinen Tee aus, nahm die Milchflasche und das Butterpaket von den Knien und bedankte sich bei der Witwe.

»Wenn mir eine unter die Augen kommt, sag ich es dir«, hatte sie zum Abschied versprochen und ihre Tür hinter ihm abgeschlossen.

Jetzt standen Milch und Butter im Doppelfenster, der Außenwelt um eine Glasscheibe näher. Die kalten Kachelöfen verlangten Brennholz. Aber Samson schien es, als hinge noch die Wärme vom letzten Einheizen in der Wohnung. Vor dem Schlafen hatte er gestern einen halben Armvoll Brennholz in dem Ofen verbrannt, der gleichzeitig das Wohnzimmer und sein Schlafzimmer heizte. Im Arbeitszimmer des Vaters herrschte natürlich beißende Kälte und dennoch nicht solche wie an jenen Wintertagen, an denen er und der Vater überhaupt ohne Holz gewesen waren. Irgendwie waren sie aber doch über den Winter gekommen. Und gegen Ende des Winters hatte sich plötzlich herausgestellt, dass jemand im Keller eine gewaltige Menge Brennholz versteckt hatte. Offenbar gestohlenes. Hatte es versteckt und war nicht wiedergekommen, daher hatte das Haus es jetzt schön warm. Aber die Sonne hatte sich schon zum Frühling gewendet. Bis zur natürlichen Wärme war es nicht mehr weit.

 

Als es draußen grau wurde und die frühe Dämmerung näher rückte, zog Samson seinen langen Gymnasiastenmantel an, steckte die Quittung des Schneiders mit dessen Adresse in der Nemezkaja in die Tasche und verließ das Haus.

Die Menschen auf der Straße gingen vorsichtig und vermieden es, nach rechts und links zu schauen. Als hätten sie Angst davor, etwas Unangenehmes zu erblicken. Im Gehen machte sich Samsons Wunde unter dem Verband wieder bemerkbar. Er richtete die Binde und wickelte sie neu um den Kopf, dann setzte er seinen Weg fort – ebenjenen, der für seinen Vater der letzte geworden war. An der Stelle, an der man seinen Vater getötet hatte, blieb er stehen, sah zum Graben, zum Straßenrand, dachte daran, wie er mit dem Arzt hierhergekommen war. In seinem Kopf rauschte es, als würde ihm das Blut in die Gedanken steigen.

Die Gedanken wurden schwer, unbeweglich, erhielten den Beigeschmack von Blut, als versuchten sie ihn gleichsam mit dieser Schwere und Unbeweglichkeit zu überwältigen. Deshalb ging er mit entschlossenen Schritten weiter, bog auf die Nemezkaja ein und blieb erst bei dem Haus des Schneiders stehen, vor dem Schild: »Schneider Siwokon. Anzüge. Jacketts. Fräcke«.

Im Fenster des Ateliers brannte ein schwaches Licht. Helleres Licht brannte in den zwei Fenstern im Obergeschoss des kleinen Hauses. Samson klopf‌te laut an die Haustür und begann zu warten.

Der Schneider, den Samson bisher nur wenige Male in seinem Leben gesehen hatte, öffnete die Tür ein klein wenig und fragte, ohne zu grüßen: »Sie sind nicht angemeldet, was wollen Sie?«

Samson nannte seinen Namen und schob die Quittung durch die Tür, die von einer Kette daran gehindert wurde, sich weiter als eine Faustbreit zu öffnen.

Der Schneider ließ Samson herein, hörte ihm zu, nickte teilnahmsvoll.

»Sie sind ja doch etwas zierlicher als Ihr lieber Vater«, sagte er seufzend. »Ich kann ihn natürlich für Sie umnähen … Aber jetzt ist nicht die rechte Zeit dafür. Meine Hände zittern neuerdings. Sie müssen ein wenig warten. Nehmen Sie ihn mit, wenn Sie wollen. Oder Sie können ihn solange hierlassen, falls Sie sich davor fürchten, jetzt abends damit auf die Straße zu gehen.«

»Ich nehme ihn mit«, sagte Samson.

So dunkel und furchterregend war es noch gar nicht, als er zurückwanderte. Es kamen ihm sogar zwei junge Mädchen entgegen, die sorgfältig, Ton in Ton dunkel gekleidet waren. Und er hörte überdeutlich, wie eine der anderen zuflüsterte: »Schau, der schöne Mann! Verwundet wie ein Held!« Er blieb stehen und sah ihnen hinterher. Dann zog er aufs Neue die Binde zurecht, damit sie nicht vom Kopf rutschte, und dachte dabei noch, dass ja in dieser Dunkelheit niemand sehen konnte, wie alt und schmutzig sein Verband war.

Das papierne Paket mit dem Anzug, mit Bindfaden verschnürt, trug er unter dem Arm und versuchte es möglichst fest an sich zu drücken, damit es nicht die Aufmerksamkeit Vorübergehender auf sich zog.

Zu Hause legte er das ungeöffnete Paket zum väterlichen Mantel in den Schrank.

Er breitete seinen Gymnasiastenmantel über die Bettdecke und legte sich im warmen Unterhemd und langen Unterhosen schlafen. Er lag da, wartete darauf, dass der Körper sich erwärmte, aber konnte einfach nicht einschlafen. Dann glaubte er auch noch ein Rascheln zu hören, als nagte eine Maus an Papier oder Karton. Er stand auf, zündete die Petroleumlampe an und spähte in alle Ecken...

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