Ostkind - Roman

Ostkind - Roman

von: Arne Kohlweyer

PENDRAGON Verlag, 2022

ISBN: 9783865328243

Sprache: Deutsch

168 Seiten, Download: 247 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Ostkind - Roman



Samstag, 13. Juni 1992


Dunkel war es, so tief unter Wasser. Kaum Tageslicht drang durch die Meeresoberfläche nach hier unten. Marko konnte gerade noch seine Arme und Hände sehen, die ihm den Weg durch das nasse Ungewisse bahnten. Mehr sah er nicht. Dafür konnte er es deutlich hören: Das Singen der Wale.

Angestrengt schaute Marko durch das dicke Glas seiner Taucherbrille. Zu deutlich hörte er es, um nicht jeden Moment auf einen von ihnen zu stoßen. Und tatsächlich! Im trüben Dunkel schwebte ein riesiger Schatten majestätisch vorüber. Ein Blauwal! Oder doch ein Buckelwal? Bevor Marko erkennen konnte, was genau er da bewunderte, war die Silhouette schon wieder verschwunden. Er versuchte, dem Wal zu folgen, ihm hinterherzuschwimmen … doch vergeblich. Er war fort. Und mit ihm entfernte sich der wundersame Gesang, bis vollkommene Stille einkehrte.

Ein kleiner Fisch schwamm direkt an Markos Augen vorbei. So nah, dass er glaubte, der goldgelbe Guppy wäre auf der Innenseite seiner Taucherbrille gefangen. Doch dann war auch er auf und davon.

Marko fror.

Mit seinen Schwimmflossen an den Füßen watete der Junge ans Ufer des kleinen Baggersees. Überall ringsumher ragten Bäume bis ins Wasser hinein, mit Ausnahme des schmalen Sandstrandes.

„Bleib’ mal kurz da stehen.“

Markos Vater Alfred zückte die Fotokamera mit dem schnappenden Spiegel und zielte auf ihn. Marko hielt die Luft an, während an der Kamera gedreht, geschaltet und herumgestellt wurde. Nur seine Taucherflossen waren noch mit Wasser bedeckt und vor dem pfeifenden Wind geschützt. Von der Sonne war schon seit Tagen nichts zu sehen.

„Mach’ hinne, Alfred! Der Junge holt sich ja noch den Tod.“ Markos Mutter stand am Bildrand, mit einem rauen Handtuch bewaffnet, bereit, ihn damit gnadenlos abzurubbeln.

„Ja doch! Einen Moment noch.“

Da war Marion, wie Alfred Markos Mutter mal mehr, mal weniger liebevoll nannte, bereits auf Marko zugestürmt. Wie einen Umhang legte sie ihm das Badetuch über die Schultern und begann ihn abzutrocknen. Seine sieben Jahre und elf Monate ältere Schwester Melanie, die bis dahin abseits gehockt und gelangweilt auf den See hinausgeschaut hatte, erhob sich jetzt und gesellte sich, mit Markos Anziehsachen unterm Arm, zu ihnen.

Da stand er nun. Marko Wedekind. Am Nachmittag seines neunten Geburtstages. Den aktuellen Statistiken über die durchschnittliche Lebenserwartung eines Mannes zufolge hatte er damit drei Sechsundzwanzigstel seines Lebens hinter sich. Das konnte er ausrechnen, obwohl sie erst im nächsten Schuljahr mit der Bruchrechnung anfangen würden. Und trotz dieser drei Sechsundzwanzigstel behandelte ihn jeder wie ein kleines Kind. Vor allem seine Mutter. Diskutieren brachte da nicht viel.

„Ifs kang mis aug …“

Marko nahm den Schnorchel aus dem Mund.

„Ich kann mich auch alleine abtrocknen!“

Seine Mutter zögerte kurz, ganz so, als würde sie ernsthaft in Erwägung ziehen, ihrem Sohn den Rest dieser erniedrigenden Prozedur zu ersparen. Dann warf sie ihm den sandpapierartigen Stoff über den Kopf und rieb Haare und Ohren trocken.

„Na, wie gefällt dir dein Geschenk?“, fragte sie.

„Gut“, drang es unter dem Handtuch hervor.

Und das war nicht gelogen. Die Taucherausrüstung gefiel Marko wirklich. Doch eigentlich hatte er sich ein neues Fahrrad gewünscht. Ein Mountainbike. Oder ein BMX-Rad. So eins, wie es alle in seiner Klasse hatten.

„Ich hab’ sogar von Weitem einen Blauwal gesehen!“, berichtete Marko mit einem vom Handtuch verdeckten Strahlen.

Das schien selbst Eindruck auf seine Schwester zu machen. Zum ersten Mal an diesem Nachmittag ergriff sie das Wort.

„Spinner.“

Nein, Geburtstage waren in seinem Alter nicht mehr dasselbe wie früher, dachte Marko sich, während die Familie in ihrem senffarbenen Trabant die Landstraße entlangtuckerte. In der Ferne ragten die Neubauten von Hohenschönhausen in den Himmel und im Radio erzählte der Nachrichtensprecher von einer jener Sachen, die Marko nur halb verstand: Der Miss Trauens-Antrag der Op-Po-Sitionsparteien gegen Minister Präsident La-fon-täne war gescheitert … Mhm.

Hinter dem Trabbi bildete sich, wie so häufig auf dieser Straße, eine kleine Schlange großer Autos, die aufgrund des Gegenverkehrs nicht vorbeifahren konnten und hupten. Wie so häufig bat Markos Mutter seinen Vater, das Hupen zu ignorieren und ruhig zu bleiben. Und wie so häufig …

„Na fahr’ doch, du Idiot!“

Ein silbergrauer Opel setzte zum Überholen an und zog vorbei. Die ganze Familie wandte die Köpfe, um den drängelnden Fahrer des Kadetts böse anzuschauen.

„So wie der fährt, seh’n wir den eh am nächsten Baum wieder!“, schickte Alfred die besten Wünsche hinterher.

Jetzt erzählte der Nachrichtensprecher mal was Interessantes: In Stockholm war die Fußball-Europameisterschaft gestartet. Schweden und Frankreich hätten im Eröffnungsspiel 1:1 unentschieden gespielt. Und am Abend würde die deutsche Mannschaft in ihrem ersten Gruppenspiel auf die gemein-Schaft unabhängiger Staaten treffen.

Marko beobachtete das nächste Auto beim Überholmanöver. In dem weinroten Volvo saß eine vierköpfige Familie – Mutter, Vater und zwei Kinder. Als er genauer hinsah, erkannte er Alfred dort am Steuer des Wagens, das Lenkrad lässig in der linken Hand und den rechten Arm liebevoll um Marion gelegt. Melanie saß auf der Rückbank, hörte Musik und wirkte dabei glücklich und zufrieden. Sein eigenes Volvo-Spiegelbild hingegen schaute spöttisch zum Trabbi hinüber. Die Blicke der beiden Markos trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde. Dann war das eckige Schwedenauto nur noch von hinten zu sehen.

Ja, dieser Geburtstag war wirklich anders als die acht davor. Auch wenn Marko sich an seine allerersten Geburtstage nicht erinnern konnte; die letzten Jahre hatte er immer mit seinem besten Freund Martin und seinem zweitbesten Freund Ecki gefeiert. Sie waren zu ihm nach Hause gekommen, wo sie um den Stubentisch Platz nahmen und den Käsekuchen aßen, den seine Mutter ihnen gebacken hatte. Dann packte Marko die mitgebrachten Geschenke aus, bevor Alfred die Jungs bei gutem Wetter zum Baggersee, bei schlechtem Wetter in die Schwimmhalle mit dem Wellenbad oder ins Kino brachte. Doch Martin war vor ein paar Monaten mit seiner Familie nach Drüben gezogen. Und seit seinem letzten Brief vor gut sechs fünfsiebtel Wochen hatte Marko nichts von ihm gehört. Bei Ecki lag die Sache anders. Alfred und Onkel Heiner – Eckis Vater – mochten sich nicht mehr. Das hatte irgendwas mit Onkel Heiners Hals zu tun. Aber genau hatte Marko das nicht verstanden. Jedenfalls wirkte sich das neuerdings schwierige Verhältnis der Väter auch auf Markos Freundschaft zu Ecki aus und führte dazu, dass er seinen neunten Geburtstag ohne Freunde verbringen musste.

Auf dem riesigen Parkplatz, inmitten eines noch riesigeren Komplexes von elf- und achtzehngeschossigen Plattenbauten, stellte Alfred den Trabbi zwischen einem blauen Mazda 626 und einem roten Audi 80 ab. Marion klappte ihren Sitz vor, sodass Marko sich hinauszwängen konnte. Gerade, als auch sein Vater den Fahrersitz nach vorne klappen wollte, erschallte hinter ihnen eine Stimme, die Marko gut kannte.

„Ach, sieh an, der Herr Professor“, sagte die Stimme, die zu Onkel Heiner gehörte.

Ecki und seine Eltern waren im Begriff, in ihren nagelneuen Passat einzusteigen, den sie sich vor ein paar Wochen gekauft hatten. Feierlich öffnete Eckis Vater die Zentralverriegelung.

„Ein Spaziergang mit motorisierter Gehhilfe?“, fragte er in Richtung Alfred.

„Kann sich ja nicht jeder prostituieren, um sich so ’ne Bonzenkarre zu leisten“, entgegnete der und Marko überlegte, ob die beiden Männer früher schon andauernd Wörter benutzt hatten, die er nicht kannte.

Tante Sigrid und Markos Mutter nickten sich zu, sagten aber nichts. Ecki schielte zu Marko herüber. Er hob den Arm und winkte ihm zu.

„Hallo Ecki“, versuchte Marko völlig normal zu klingen.

„Alles Gute zum Geburtstag …“, gratulierte Ecki pflichtbewusst.

„Danke …“

„Hast du das Fahrrad bekommen?“

Onkel Heiner schob seinen Sohn zur Hintertür des Passats. Ecki stieg ein, ohne dass dafür irgendetwas umgeklappt werden musste. Melanie saß noch immer auf der Rückbank des Trabbis.

„Papa?“

Endlich betätigte Alfred den Hebel neben dem Fahrersitz und sie konnte herausschlüpfen. Eckis Vater...

Kategorien

Service

Info/Kontakt