Ekstasen der Gegenwart - Über Entgrenzung, Subkulturen und Bewusstseinsindustrie

Ekstasen der Gegenwart - Über Entgrenzung, Subkulturen und Bewusstseinsindustrie

von: Paul-Philipp Hanske, Benedikt Sarreiter

Matthes & Seitz Berlin Verlag, 2023

ISBN: 9783751803946

Sprache: Deutsch

351 Seiten, Download: 1456 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Ekstasen der Gegenwart - Über Entgrenzung, Subkulturen und Bewusstseinsindustrie



Die Nacht wird zum Tag gemacht – Die Rückkehr der Ekstasen


Neugier auf drüben


Wir interessieren uns für die andere Seite, und das schon immer. Das fing mit Frau Holle an, die einen von uns als Kind besonders in ihren Bann zog. Das lag an einer ganz bestimmten Szene: Die Protagonistin Goldmarie wird von ihrer bösen Stiefmutter dazu gezwungen, in den Brunnen zu springen, um die Spindel wieder heraufzuholen, die ihr zuvor hineingefallen war. Voller Angst gehorcht das Mädchen. Es fällt, landet aber nicht im dunklen Wasser, sondern verliert vorher die Besinnung. Im Märchen, wie es die Gebrüder Grimm niedergeschrieben haben, heißt es: »Als es erwachte und wieder zu sich selber kam, war es auf einer schönen Wiese, da schien die Sonne und waren viel tausend Blumen.«1 Das schien beim Zuhören ganz und gar nicht unmöglich: nach unten zu fallen, um oben wieder aufzuwachen – denn dass der Ort oben ist, wissen wir, Goldmarie muss die Betten von Frau Holle ausschütteln und sorgt so für den Schneefall auf der Erde. Dieser Ort schien nicht von dieser Welt, man war dort nicht bei »sich selber«.

Und auch der andere von uns versuchte schon als Kind, der spröden Realität zu entkommen. Er hatte entdeckt, dass bei langem, direktem Blick in die Sonne diese irgendwann zu vibrieren beginnt. Der Feuerball bewegt und dreht sich immer schneller, verdunkelt sich, nimmt andere Farben an – und wenn er die Augen dann abwendete, lag über der Wirklichkeit ein bunter Schleier, der in vielen Farben glühte.

Später dann, in dieser nebligen Phase zwischen zwölf und vierzehn, wenn man nicht mehr Kind ist, einem aber auch die Abenteuer der Jugend noch versperrt sind, gaben wir uns beide unabhängig voneinander, denn wir kannten uns noch nicht, einem gefährlichen Spiel hin: dem Wegdrücken oder Bewusstlosmachen, im Englischen Good Kid’s High oder Space Monkey genannt. Die Technik zirkulierte als Geheimwissen unter jenen Schülerinnen und Schülern, die im Klassenzimmer gern in der letzten Bank sitzen. Sie kam vor allem in den Toilettenräumen zum Einsatz. Erst musste man hyperventilieren, dann drückte einem jemand den Brustkorb gegen die Wand. Innerhalb weniger Sekunden verlor man das Bewusstsein, was oft zum Aufprall auf den Fliesen führte. Aber die Lust am Kontrollverlust und dem langsamen Emportreiben an die Oberfläche des Bewusstseins überwog dieses Risiko.

Als wir Musik für uns entdeckten, faszinierten uns vor allem jene Stile, die unmittelbar somatisch wirken: erst die Härte von Punk und Metal, dann – als große Leidenschaft, die uns bis heute begleitet – die Monotonie von Techno und House. Bei alldem konnten die Drogen nicht ausbleiben. Auf dem Dancefloor war das vor allem MDMA, besser bekannt unter dem treffenden Namen Ecstasy. Und mit LSD fanden wir jene Substanz, die uns auf radikale Weise aus dem Alltag und seiner Zeit riss und in diese andere Welt führte, die uns schon immer lockte, vor der wir aber auch immer Respekt hatten.

Zu diesen Bewusstseinszuständen, die man durch Musik, Tanz, Verausgabung oder Substanzen erreicht oder sich ihnen damit zumindest annähern kann, hatten wir immer ein inniges Verhältnis – und haben es bis heute. So schrieben wir im Jahr 2015, da waren wir schon lange befreundet, ein Buch über die Wiederkehr der Psychedelik.2 Dieses Verhältnis war aber auch lange Zeit ein zum Teil unbewusstes. Wir bildeten uns auf diese Leidenschaft weder etwas ein, schämten uns dafür aber auch nicht. Das lag schlicht daran, dass wir uns in Szenen bewegten, in denen alle neugierig auf die »andere Seite« waren und Lust an der willentlichen und vorübergehenden Ausschaltung der Ratio hatten. Diese Szenen werden gelegentlich als »Subkultur« beschrieben, ein Begriff, mit dem wir uns nie wohl fühlten, weshalb wir lieber Teile des Kanons nennen, der für diese Bewegungen identitätsstiftend war: Krautrock von Can, aber auch der harte Industrial-Sound von Throbbing Gristle. Balearic Disco, Acid House und Minimal Techno, DJs wie Carl Craig aus Detroit, Ricardo Villalobos aus Berlin oder Harvey aus L. A. Autoren wie Thomas Pynchon und Autorinnen wie Ursula K. Le Guin. Filme wie Ridley Scotts Blade Runner oder Godfrey Reggios Koyaanisqatsi. Drogengelehrte wie Timothy Leary oder Claudia Müller-Ebeling. Wir könnten ewig weiter aufzählen, aber es dürfte schon klar geworden sein, worum es sich handelt: um so etwas wie die Nachtseite der Kultur. Diese Obskurität hing durchaus zusammen mit den Umständen des Konsums der meist illegalen Substanzen. Man musste sich um einen Zugang bemühen, musste sich einarbeiten – auch wenn Arbeit in diesem Zusammenhang der falsche Begriff ist. Denn es machte vor allem Spaß.

Saubere Räusche


Doch vor einiger Zeit änderte sich etwas. Nicht plötzlich, sondern schleichend, und in Wirklichkeit ist dieser Prozess auch schon viel älter, beschleunigt sich aber seit etwa fünf Jahren zunehmend, sodass man ihm – hat man ihn einmal bemerkt – nicht mehr auskommt. Es fand so etwas wie ein Mainstreaming vormals peripherer Praktiken statt. Das Dunkel des Undergrounds wurde ans Licht gezerrt.

Zuerst fiel uns auf, dass anspruchsvolle psychedelische Substanzen wie LSD, Psilocybin oder DMT plötzlich sehr sichtbar wurden. Den florierenden Ayahuasca-Tourismus nach Südamerika (samt dessen medialer Aufbereitung in Lifestyle-Magazinen) und die boomende Festival-Kultur hätte man noch als Ausweitung von Nischen sehen können, wie es sie gerade in vielen Bereichen der Popkultur gibt. Aber wenn Celebritys wie Gwyneth Paltrow, die für eine überirdische Perfektion der Normalität steht, plötzlich glühende Bekenntnisse zu Magic Mushrooms von sich geben und von »life-changing experiences« berichten, ist das etwas anderes. Und wenn Managerinnen und Manager der Tech-Branche von den positiven Auswirkungen psychedelischer Substanzen auf ihre Kreativität schwärmen, wenn es zahlreiche Start-ups gibt, die diese Stoffe oder Therapien mit ihnen vermarkten und am liebsten auch noch patentieren wollen, ist das eine neue Qualität. Relativ neu ist auch das sogenannte Microdosing, mit dem versucht wird, die angeblich positiven Effekte der genannten Mittel – Kreativität, Fokus und je nach Marketingversprechen entweder Entspannung oder Wachheit – ohne den für viele beängstigenden Rausch zu erhalten (Spoiler: Das aber wohl nicht mehr Effekte als ein Placebo bewirkt). Dass medizinische Therapien und hirnphysiologische Forschung in den letzten fünfzehn Jahren eine enorme Konjunktur haben, ist ein zentraler Bestandteil dieser Phänomene, denn diese Entwicklung wirkte nach Jahrzehnten der Kriminalisierung gewissermaßen als Rammbock der Enttabuisierung – und wird auch Einfluss auf die weitere Diskussion um eine Legalisierung jenseits der von Cannabis haben.

Psychedelik ist heute nicht mehr nur das Ding einer eingeschworenen, informierten Gemeinschaft, sondern auf mysteriöse Weise prominent geworden. Der Use findet nicht mehr nur heimlich auf Raves, in Wohngemeinschaften oder im Wald statt, sondern selbstbewusst bis marktschreierisch im taghellen Licht der (Medien-)Öffentlichkeit. Das ist ein Bruch, der radikaler nicht sein könnte: Der Rausch, der über Jahrhunderte hinweg als schädlich, im besten Fall als unnütz gedacht wurde, ist plötzlich ein Tool geworden. Damit kann sehr effektiv geheilt werden, viel häufiger wird dieses Tool jedoch zur Selbstoptimierung verwendet. Oder die Rauscherfahrung dient als interessantes Feature, mit dem das eigene Selbst im Sinn der Gesellschaft der Singularitäten kuratiert wird. Das weggetretene Subjekt steht nicht mehr am Rand, sondern wandert in die Mitte der Gesellschaft, es ist leistungswillig, gesundheitsbewusst, wellnessaffin – und hat eine interessante Geschichte vorzuweisen.

Engel und Räucherholz


Längst kann das Phänomen nicht mehr nur auf die Tatsache reduziert werden, dass immer mehr Menschen ihre Liebe zu psychedelischen Drogen entdecken. Seit einigen Jahren boomen alle denkbaren Formen von Spiritualität. Sie verbindet, dass über verschiedene Methoden – manchmal sind es Drogen, oft aber auch meditative Techniken oder andere Rituale – ebenfalls Kontakt mit einer anderen Seite aufgenommen wird, mit einer Sphäre der Transzendenz. Dort wird dann je nach Spielart ein nicht klerikal definierter »Gott« verortet, Engel, alte Muttergottheiten, die Natur, das Universum, buddhistische Konzepte, manchmal jedoch auch völlig private und nicht zu vergleichende Ideen des persönlichen Glaubens. Diese florierende Spiritualität wird heute in allen Potenzen praktiziert: etwa von Menschen, die sich ganz und gar Techniken wie Yoga oder Meditation verschrieben haben, von neoheidnischen Priesterinnen, die zu Sonnenwenden ihre Rituale feiern, oder Gläubigen, die die kontemplative Tradition der katholischen Mystik wiederentdecken. Sehr viel häufiger sind es jedoch verdünnte Phänomene...

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